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Randhemerkungen zur woche

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„RESULTAT CUT.“ Das klang Captain Pearsons zu bescheiden. Man gab also einen zweiten Funkspruch durch: „Resultat ausgezeichnet.“ So sah die Sache von oben aus, für den In 61 Einsätzen über Städten wie München und Stuttgart erprobten Bombenschützen Major Toi Ferebee. — Von unten sah sie der Schulknabe Schuzo Nlshlo so: „Der Morgen graute. Das Feuer erlosch. Von den leuchtenden Strahlen der Morgensonne Übergossen, zogen wir den Berg hinunter in die Stadt. Wo ich auch hinschaute, lagen die Toten. Tote mit mächtig angeschwollenen Brandblasen. Tote, denen eine ölige, zähe Flüssigkeit aus den Augen quoll. Ich fürchtete mich sehr, mir wankten die Beine. — Viele Bekannte lagen unter den Leichen. Die Stadt war zu Asche verbrannt. Die Straffen lagen unter der Asche begraben. Wir wateten durch sie hindurch. Sie war noch heiß ... Bruder und Schwester fanden wir nicht, nur Asche ... Ich hocke auf der Asche. Meine Tränen fallen auf sie. Wo sie niederfallen, entstehen kleine, schwarze Löcher, viele, viele kleine, schwarze Löcher.“ In diesen Tagen sind es zehn Jahre, seitdem die ersten Atombomben auf Menschen fielen. Am 6. August war Nagasaki, am 9. August 1945 war Hiroshima das Ziel, genauer, der christliche Stadtteil Urakami, „mit der Kirche, die 400 Jahre lang den Glauben rein bewahrte“, wie der Arzt Dr. Nagal, der grofle japanische Friedenskämpfer, festhält, er, der selbst sechs Jahre später an den Folgen dieser Bombe bei lebendigem Leibe verbrennt. — Erst heute erfährt die Weltöffentlichkeit langsam Einzelheiten über die Inneren Auseinandersetzungen der von ihrem Gewissen mit Recht gepeinigten Forscher, die bei der Entfesselung der nuklearen Energien beteiligt waren und sind, und den Militärs und Politikern, die, wie so oft, eine dickere Haut besitzen und allzu selten begreifen, daß ein „Sieg um jeden Preis“ kein totaler Steg Ist, sondern die totale Niederlage bedeutet. — In den letzten Monaten haben sich die Warnungen vor Einsatz und Experiment der Atombombe, die sich in diesen Jahren aus der „Babybombe“ von Nagasaki zur Kobaltbombe „entwickelt“ hat, gehäuft. Pius XII., die bedeutsamsten Naturforscher der westlichen Welt, Philosophen, Aerzte, die wahre Elite der Menschheit, haben die Erklärung Albert Schweitzers unterstrichen: „Die Welt sollte auf die Warnungen der Fachleute hören, die diese furchtbare Gefahr verstehen. Die Wissenschaftler müssen der Menschheit die Wahrheit sagen. Sie haben die Autorität, zu zeigen, daß wir die Verantwortung für diese Versuche nicht länger übernehmen können ...“ — Die größte und angesehenste westdeutsche Zeitung schreibt in Ihrem Kommentar zum 6. August 1945 am 6. August 1955: „Es gibt nur eine Abwehr: die feierliche Aechtung aller thermonuklearen Waffen.“ Das ist es und nichts anderes. Wer sich, unter dem Schleier' (lieser und jener Ideologie, heute noch zu einer Verwendung der Atomwaffen, auch mit sogenannten „begrenzten“ Zielen, bekennt, macht sich mitschuldig an dem, was kommen kann; ist heute bereits schuldiger als der Captain Pearsons vom 6. August 19 5 5 — well er verpflichtet ist, den Tränen des Schulknaben Schuzo Nishio und der Asche der Menschheit ins Gesicht zu sehen: der Asche und den verkrüppelten, verseuchten Leibern und Seelen aller Menschen, die, mit uns, von diesem ungeheuerlichen Geschehen betroffen sind. Wir haben nämlich nur diese eine Wahl: uns heute so tief und entscheidend betroffen zu fühlen, daß wir alles tun, was in unserer Macht steht (und die Macht noch der Kleinsten. Schwächsten, Einzelnen Ist riesengroß, wie die Weltgeschichte lehrt), um eine neuerliche Anwendung der Atomwaffe zu bekämpfen oder, morgen und übermorgen, von ihr selbst getroffen zu. werden. — Am 8. August 1955 hat in Genf eine internationale Konferenz über die friedliche Nutzung der Atomenergie begonnen-, an ihr nehmen unter anderen 79 sowjetische Sachverständige teil. Diese Genfer Konferenz Ist mit ihren beiden Schwesterkonferenzen, der Begegnung der Großen Vier und der ersten amerikanisch-chinesischen Aussprache, eine der vielen Möglichkeiten, der vielen Wege, die wir alle geduldig und ernst zu gehen haben, um der Vernichtung zu entrinnen.

VIER TÖNE IN G-DUR haben bis zum 13. Jan-ner 3935 Programmusik an der Saar gemacht und, nachdem 2124 Personen für Frankreich und 477.119 für Deutschland stimmten, wanderten die vier Anfangstöne von „Deutsch ist die Saar“ mit einem Pfälzer Herrn nach Wien, um hier weiter Programmmusik zu machen, bis es keine mehr gab. Nun, da der Wahlkampf an der Saar für das Referendum über das Statut am 23. Oktober in Gang kam, erklangen bei der ersten Massenkundgebung zum Beginn das Deutschlandlied (erste, nicht dritte Strophe) und zum Schlüsse dröhnte es wieder durch den Saal: „Deutsch ist die Saarl“ Im Drange der internationalen Konferenzen schenkte die Oeffent-llchkeit dem Dur an der Saar keine besondere Aufmerksamkeit. Es wäre aber angezeigt, hinzuhören. Die vier Gesetze des saarländischen Landtages haben zum Verdrusse mancher westdeutscher Kreise die Bejahung durch den Präsidenten der Internationalen Ueberwachungskommission für das Saar-Referendum, durch den Belgier Dehousse, gefunden. Es besteht nun gegenwärtig, wo ernste Bemühungen um die deutsch-französische Verständigung, diesen Grundpfeiler der europäischen Sicherheit und des Friedens, Im Gange sind, keine Veranlassung, zu weit zu gehen und markig G-Dur anzustimmen. Die Opposition von heute ist nicht jene Phalanx der dreißiger Jahre; es besteht keine einheitliche Linie zwischen der Demokratischen Partei Saar (DPS), den Soziallsten (DSP) und der CDU - es sei denn das Wort „Wiedervereinigung“, von der alle miteinander nicht wissen, wie es in die Tat umgesetzt werden könnte.

Viel bedeutsamer ist die wirtschaftliche Entwicklung (und das Saarproblem ist vorherrschend ein wirtschaftliches). Die Kokseinfuhr aus Deutschland hat ich im ersten Quartal 1955 gegenüber dem Vorfahre um das siebenfache, die Einfuhr aus Frankreich nur um das zweifache erhöht. Die Umsätze des Bergbaues weisen in Richtung Deutschland ein Plus von

15 Prozent, in Richtung Frankreich ein Minus von über 10 Prozent auf. Besonders muß die Verlagerung in dem für die Saar so wichtigen Kohlenbergbau beachtet werden. Das erste Halbjahr 1955 zeigt gegew-über dem gleichen Zeitraum des Vorjahres eine A.usfuhrsteigerung nach Westdeutschland von über

16 Prozent, wogegen der Export nach Frankreich um fast die gleiche Höhe zurückging. Diese Tonart ergibt eine andere Programm-Musik.

MIT RUPPRECHT VON BAYERN wurde einer der letzten großen Repräsentanten einer Aera zu Grabe getragen, da der Begriff Dienst noch untrennbar verbunden war mit dem Begriff Ehre. Dieser Sohn des letzten Königs aus dem Hause Wittelsbach hat sein Leben lang gedient, in treue-sicr Erfüllung der Pflichten, die ihm durch seine Geburt, seinen Rang und Namen auferlegt worden waren. Er sah seine Dienstesschuld nicht als erloschen an, als er, zurückgekehrt aus dem Feld, wo er bis zum letzten Tag auf dem Posten gestanden war, von seinen Soldaten verehrt und sicherlich der politisch weltsichtigste unter den deutschen Heerführern, seinen Vater der Krone .verlustig fand und Bayern in eine Republik verwandelt. Er fügte sich ohne Groll dem Wandel des Schicksals, von dem Bewußtsein seiner fortdauernden Verantwortung getragen. Seinen legitimen Anspruch auf die Krone niemals verleugnend, blieb er, wie er immer gewesen war: teilnehmend wie kein zweiter an den Sorgen und Nöten wie an den Freuden seines Volkes, unermüdlich In seiner vielseitigen wissenschaftlichen Arbelt, vorbildlich als Gatte und Vater, schlicht In seinem Leben wie ein einfacher Bürger, und dabei stets die unnachahmliche Haltung bewahrend, wie sie nur dem geborenen Herrn zu eigen ist. Nie war der achthundertjährige Wappenschild der Wittelsbacher blanker als in den Händen dieses Prinzen, und seine Bayern, von Natur aus demokratisch, aber ebenso natürlich in ihrem Respekt vor der organisch gewachsenen Rangordnung, haben es Ihm mit ihrer treuen Anhänglichkeit und Liebe gedankt. Und jetzt an seiner Bahre haben sich trauernd alle versammelt, überzeugte und der Zukunft ihrer Sache vertrauende Monarchisten, vereint mit anderen, die eine monarchische Restauration weder als wünschenswert hoch als möglich erachten, und mit jenen noch, die aus ihrer sozialistischen Gesinnung heraus glauben, die Wiederkehr der monarchischen Staatsform bedingungslos ablehnen und bekämpfen zu müssen. Unter den schwarzen Fahnen, die eine sozialistisch geführte Regierung in ganz Bayern hissen ließ, mit dem von dieser Regierung angeordneten Staatsbegräbnis, hat Bayern seinem toten Kronprinzen die letzte Ehre erwiesen. Das bayrische Volk und seine Regierung haben mit dieser pietätvollen Ehrenbezeigung zugleich sich selbst geehrt.

IN UNGARN HAT DAS SEIT DEM FRÜHJAHR WIEDERERSTARKTE RAKOSI-REGIME in der letzten Woche wieder einmal einen Schritt nach rückwärts getan. Die am 3. August offiziell bekanntgegebene Enthebung des Obersten Staatsanwaltes der Volksrepublik von seinem Posten bedeutet aller Wahrscheinlichkeit nach eine weitere Versteifung der Lage, die angesichts der Verbrüderungspolitik Moskaus insbesondere Jugoslawien gegenüber höchst sonderbar anmutet. Der Posten eines Obersten Staatsanwaltes war in Ungarn bis zum 4. Juli 1953 unbesetzt. Der an diesem Tag in das Amt tretende Ministerpräsident Imre Nagy widmete in seiner Programmrede vor dem Parlament der Schilderung der Uebertretungen seitens der Behörden und der Polizei breitesten Raum und sagte, daß an diesen notorischen Uebertretungen der Gesetze vielfach der Umstand die Schuld trage, daß die von der Verfassung vorgeschriebene Institution einer Obersten Staatsanwaltschaft niemals Wirklichkeit wurde. Der Oberste Staatsanwalt sollte der höchste Wächter über die Rechtsordnung, die Rechte der Staatsbürger gegenüber ihrem Staat, sein. Gleichzeitig mit seiner Regierungsliste und vor der Ankündigung der Auflösung der Internlerungslager gab Nagy damals die Ernennung von Kaiman Czako zum Obersten Staatsanwalt für die Dauer von sechs Jahren bekannt. Diesem wurde das Recht zuerkannt, an den Sitzungen des Präsidialrates und des Ministerrates, an der-. Ausarbeitung der Gesetze teilzunehmen, ebenso wurde Ihm das Recht der Oberaufsicht gegenüber den Verwaltungsbehörden und der Polizei eingeräumt. Vor Gericht konnte der Staatsanwalt nunmehr auch eine Milderung des Urteils beantragen, seine Kompetenzen übertrafen also um ein Vielfaches die einer Anklagebehörde. Der De-facto - Vorgänger Czakos, ohne den Titel und die beachtlich erweiterten Kompetenzen eines Obersten Staatsanwaltes, war jener Gyula Alapi, der in den Prozessen gegen Kardinal Mind-szenty, Erzbischof Grösz und auch Im Prozeß Rajk die Anklage vertreten hatte. Demgegenüber wurde Kaiman Czako als Anklagevertreter nur einmal genannt: bei der Verurteilung des berüchtigten Polizeichefs Gabor Peter im Frühjahr 1954. Seine Amtsenthebung stimmt um so bedenklicher, da bisher kein Nachfolger, bloß ein Stellvertreter ernannt wurde ...

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