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Realismus oder Utopie?

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„Einen großen Mann ehrt man“, sagte vor 33 Jähren Kar] Jaspers in seiner Rede auf Max Weber, „indem man seine Werke sich zu eigen macht und in seiner Idee zu arbeiten versucht, um die Verwirklichung, die er möglich gemacht hat, ein jeder zu seinem kleinen Teil fortzusetzen“. Dieses Postulat wird nur selten befolgt und auch dann meist so, daß man die Werke „sich zu eigen macht“, indem man sie nach handfesten „Richtlinien“ umdeutet. Das geht dort leicht, wo schon im Originalwerk Illusionen und Schmeicheleien eine Rolle spielen. Man braucht nur die jeweiligen Zitate auszuwählen, sie zu „entstauben“. Aber wie, wenn das Werk keine hierzu „brauchbaren“ Stellen enthält? Dann hilft nur eins: Schlagworte! Man nehme als Beispiel den ungarischen Heros Ludwig Kossuth. Dieser Kossuth nun nannte einmal seinen Gegenspieler, den Grafen Stephan Szechenyi, in einer rhetorischen Aufwallung, als er gerade dabei war, dessen großem Reformwerk das Wasser abzugraben, „den größten Ungarn“. „Der größte Ungar“ echot heute noch oder, besser, echote noch gestern jedes ungarische Schulkind, jedes Parlamentsmitglied. Aber mit seinem Werk, seinen Ideen konnten jene, die in den letzten hundert Jahren in Ungarn den Ton angaben, wenig anfangen. Es gab freilich Ausnahmen — mit derselben Aussicht auf Einsamkeit.

Das kümmerte einen jungen Historiker, Julius Szekfü, freilich nur wenig. Er wollte nichts, als nach dem „Wahren“ in der Geschichte suchen, mit Ranke fragen, „wie es eigentlich gewesen sei“, aber er tat dies mit der Intensität des Philosophen in der zitierten Jaspers-Rede, „der immer mit seiner Persönlichkeit haftet, sie ganz einsetzt, wenn er sich überhaupt irgendwo einsetzt“. Nichtsdestoweniger hatte er dies mit Szechenyi gemeinsam, daß die Befolgung auch seiner Mahnungen immer mehr in imaginäre Ferne rückte. Wohl eine bittere Erkenntnis für den heute Siebzigjährigen: für sein Vaterland wurde es zum Verhängnis.

Zwischen 1909 und 1925 arbeitete Szekfü im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv als Archivkonzipist, Staatsvizearchivar, dann ab 1918 als ungarischer Archivkommissär. Erst 1925 kehrte er nach Budapest zurück, wo er bis 1944 Ordinarius an der Universität war. Daß er in Wien für seine „hervorragende Mitarbeit“ an verschiedenen archivalischen Projekten „ein bleibendes Verdienst“ erworben hat, davon zeugen diese zitierten Worte aus dem „Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs“. Ebenda füllen die Titel seiner Publikationen allein zwischen 1904 und 1935 zwei ganze Seiten. Uns interessieren aber vor allem jene seiner Werke, die nicht bloß Geschichte darstellen, sondern selbst auch gleichsam Geschichte geworden sind, in ständiger und oft sehr empfindlicher Verflechtung mit dem Schicksal seines Volkes im letzten halben Jahrhundert.

Aber „die Dinge“ redeten nur zu oft eine harte Sprache und der Beamte des Wiener Staatsarchivs kam in Gegensatz bald zu allem, was damals in Ungarn die Köpfe wie die Straßen beherrschte. Mit seinem vielleicht schönsten Werk, „Der verkannte Räköczi“ (1913), in dem er auf Grund neuen Quellenmaterials die tragisch-menschliche Gestalt des alternden, in der Emigration nach Irrlichtern herumirrenden Fürsten Räköczi dem Leser in menschliche Nähe rückte, erntete er Sturm: Bei der ob solchen Sakrilegs in nationaler Empörung schwelgenden Kurutzen-Geschichtschreibung und bei der Phalanx der nationalliberalen Presse. Man schimpfte, und lästerte: „Schwarzgelb“, und das hieß damals so viel wie Verräter. Jahre später kam dazu: „Germanophiler Ultrakatholik.“ Das Werk, das ihm diesen Vorwurf eintrug („Drei Menschenaher — Ein Zeitalter des Niederganges“, 1920, in ergänzter Fassung: 1934] entstand unter dem Eindruck des Zusammenbruches von 1918. Szekfü fand die Wurzel des Uebels darin, daß die der vormärzlichcr Reformgeneration Szeehenyi-Deak folgender Generationen sich der Konzeption, weichet auch noch Deaks Werk — der Ausgleich vor 1867 — angehörte, im Geiste nach und nacr. entfremdet hatten. Eingangs aber analysier! Szekfü das konservative Reformsystem de? großen Romantikers Szechenyi, welches sich auf das nationalökonomische und staatsrechtliche Gebiet sowie auf das der nationaler Moral und der Nationalitätenfrage erstreckt! und stellt ihm den Kossuthschen Radikalismus gegenüber der den alten nationaler

Fehlern-in demagogischer Weise schmeichelte und statt Gewissensforschung, Selbstbildung und positiver Kleinarbeit als Allheilmittel die nationale Souveränität forderte, ohne deren Folgen für den damaligen Nationalstaat Ungarn zu bedenken.

So wurde Szekfü, auch als langjähriger Redakteur der Monatsschrift „Magyar Szemle“, zum Kristallisationspunkt einer qualitativ wertvollen Opposition junger Intellektueller, die eine Demokratisierung Ungarns ernstlich vorantreiben wollten. Er schrieb unzählige Artikel, in welchen er für die Rückkehr zum christlichen Humanismus und Naturrecht, für Ausgleich mit den Nachbarvölkern, für Bodenreform eintrat. Es ist demnach klar, daß Szekfü mit dem Hitlerismus und seinen auch in Ungarn beheimateten pervertierten Schattierungen zwangsläufig in unüberbrückbaren Konflikt geraten mußte. Er wurde zum Haupt des geistigen Widerstandes gegen diesen „Zeitgeist“. Als dann die Sowjetregierung ihn 1946 von der etwas erstaunten Budapester Regierung als ersten Gesandten nach Moskau erbat, wo er etwa zwei Jahre verblieb, war dazu dieser Umstand ausschlaggebend. Aber Szekfü, den mit der herrschenden Ideologie kaum etwas verbinden kann, blieb auch weiterhin auf der Liste der Parlamentsmitglieder und er erhielt jetzt zu seinem 70. Geburtstag eine hohe staatliche Auszeichnung. Wie erklärt sich das?

Eins ist sicher: Szekfü eignet sich für die „Repräsentation“, für die Rednertribüne kaum: sein Name war Zeit seines Lebens nur für wenige ein Begriff — zumindest in gutem Siqne. Er ist aber dennoch „wichtig“. Auch weil manche seiner ehemaligen Schüler, manche aus seinem Kreis, heute etwa als Hochschullehrer, auf wichtigen Posten stehen. So kann er nicht einfach vergessen werden. Aber es gibt auch noch einen triftigeren Grund. Szekfü betrachtete die Blindheit, geistige und moralische Verkommenheit der führenden Schicht im Laufe der Jahre mit wachsendem Pessimismus. Er sah die Unterlassungen, nicht zuletzt auf der Seite, die ihm innerlich am nächsten stand, der christlichen. Noch 1939 schreibt er, daß das Unvermögen der katholischen und der protestantischen Kirchen in Ungarn, den Forderungen der großen Französischen Revolution nach Menschenrechten etwas Ebenbürtiges, geboren aus christlichem Geiste und naturrechtlichen Ideen mit Richtung auf die Bauernbefreiung an die Seite zu stellen, mit der einzigen Ausnahme der christlichen Humanität Szechenyis, zu den traurigen Kuriosa der ungarischen Geschichte gehört. So reift in ihm die „schmerzliche Ueberzeugung“, daß für bürger-

liche Reforrrien, zu welchen man sich hundert Jahre lang nicht aufraffen konnte, die Zeit für immer vorbei ist. 1947 schreibt er sein bisher letztes Buch „Nach der Revolution“. Die Diagnose des „Ancien regime“ ist grausam, sarkastisch, selbstquälerisch. Gleichzeitig findet er Worte der Realpolitik für die Sowjetunion, dann auch noch, in vereinzelten Artikeln, anerkennende Worte für das neue Schulprogramm, für die Elektrifizierung der Dörfer.

Schwebt hier Szekfü etwa Szechenyis Traum und Leitmotiv vom „kimüvelt emberfö“ (das heißt so viel wie „gebildeter Menschenverstand“) vor, indem er auf die heranzubildende neue Intelligenzschicht hofft? Noch niemals hat man auf Volksreserven so mutig zurückgegriffen — werden aber diese, einmal zum Spezialistentum herangebildet, auch mit dem — Denken beginnen? Oder zeugt es nur von Szekfüs Realitätssinn, ebenfalls in den Spuren Szechenyis, wenn er die Konsequenzen aus Ungarns Lage im Donauraum zu ziehen heute ebenso bereit ist wie zu Habsburgs Zeiten, statt Wunschbildern nachzulaufen, wie dies die Räköczi- und die Kossuth-Emigranten taten? Hält er dagegen mit Hegel ein „Sichzurückziehen in die innere Lebendigkeit“ für den einzig guten Weg für den Ungarn und den Christen, wo sie unter der Schocktherapie des Kommunismus sich endlich finden und einer besseren, menschlicheren Zukunft entgegensehen könnten, ähnlich, wie dies im 1940 besiegten, besetzten Frankreich unter dem Aspekt der Klassiker und — des wiederentdeckten Peguy begonnen wurde? Hält er also die Risken seiner Haltung, die er immerhin einer Jugend vordemonstriert, noch für vertretbar oder nur für unvermeidlich? Ist er noch der nüchterne Realist — was seine Feinde nie glaubten — oder Opfer gefährlicher Utopien? Fragen, die eigentlich uns alle angehen!

Wie dem auch sei, den alten Ton, den Ton des „praeeeptor Hungariae“, finden wir bei dem heutigen Szekfü nicht mehr. Wenn er auch früher oft zu tauben Ohren sprach, die heutige Führerschicht hat bestimmt ganz andere Ratgeber. Die Emigration will von dem „Kommunisten“ Szekfü — das letzte Beiwort, das er bisher erhielt — nichts hören. Seine Bücher, lange nicht mehr im Verkehr, sind an der Universität hinter Schloß und Riegel. Der Scheiterhaufen wird — da oder dort zuerst — aufflammen. Nach ähnlichen, wenn auch mit weniger Dramatik erworbenen Erfahrungen konnte der ihm in manchem verwandte Friedrich Meinecke in aller Geschichte nur mehr „zugleich Tragödie“ sehen. Szekfü denkt und fühlt anders. Und wir teilen nur seinen, von großer moralischer Unruhe und tiefsinnigem Pessimismus überschatteten, aber trotzdem lebendigen katholischen Glauben an die ursprüngliche Güte des Menschen, wenn uns um den Fortbestand seines Lebenswerkes nicht bange ist,

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