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Reflexion über die Entzifferung der Naiur

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Schon vor langer Zeit hatte man in Europa zu hören bekommen, daß die Amerikaner in katastrophensicheren, unterirdischen Schächten ein seltsames Königsgrab anzulegen im Begriff waren. So, wie die Aegypter in ihren Pyramiden die Kultur ihrer Epoche der Nachwelt überliefert hatten, so sollte in diesen Schächten ein Extrakt unserer Epoche, wie in einem Eisschrank, kommenden Geschlechtern Zur Erbauung oder als Menetekel — je nachdem — aufbewahrt werden. Die Musik Bachs, die Stimme Edisons auf der ersten Schallplatte, die Wolkenkratzer New Yorks, ein modernes Schlachtschiff, Greta Garbo und weiß Gott wer und was noch alles, sollte künftiger Erweckung entgegenwarten wie die tertiären Mammuts.

In derselben Weise, wie uns die Vergangenheit zur Gegenwart wird, möchten wir die Gegenwart Zukunft werden lassen.

Mit einem Wort: der Ablauf der Zeit geht Uns etwas an. »

So, wie der Mensch niemals am selben Fleck im Räume sitzenzubleiben vermag, sondern ein ewiger Nomade ist, der die Kontinente, die Tiefe der Elemente und das Ausmaß des Kosmos durchforscht, so wirft er auch das Lot seiner Neugier in die Tiefe der Zeit; und so, wie wir jenseits der momentanen räumlichen Grenzen immer neue Abenteuer, nie erlebte Dinge und Wunder vermuten, so sind unerforschte Vergangenheit und ungeahnte Zukunft voll der Rätsel und Mythen, denen wir entstammen und wieder entgegengehen.

Das Interesse für den Zeitablauf, das „historische Bewußtsein“, ist so alt wie die Menschheit selbst. Immer schon war es dem Menschen ein Anliegen, zu wissen, was vor ihm war und was nach ihm sein wird. In allen Mythen werden Urgewalten und Götter aufgeboten, um die Gegenwart zu erklären, und auch die Gegenwart ist nur eine kleine Welle im großen Strom.

Wir sind jetzt nüchterner geworden, die Phantasie spielt keine so große Rolle mehr in der Deutung von Vergangenheit und Zukunft; die Bilder, die wir entwerfen, haben an poetischer Kraft verloren und an Wahrheit gewonnen; das Anliegen aber ist das gleiche geblieben. Mit Hilfe der Wissenschaft fertigen wir nun die Dechiffrierschlüssel, die uns Zugang zu neuen Räumen und Zeiten eröffnen sollen. Wenn Weizsäcker jüngst „Über die Geschichte der Natur“ schrieb, so schrieb er im selben Atemzug ebensogut über die Geschichte ihrer Entzifferung. Vielleicht ist dieser Aspekt sogar das Aufregendste am Ganzen; diese Vorstellung, irgendeinen Punkt im Raum-Zeit-Koordinatensystem einzunehmen und die konzentrischen Kreise der Erkenntnis um sich zu legen, bis der Zeit-Raum, den man überblickt, so gewaltig ist, daß die Spanne des eigenen Lebens tatsächlich nur noch einen mathematischen Punkt ausmacht. Charakteristisch für den Vorgang ist etwa die Entzifferung des Steines von Rosette durch Champollion. Man findet dieses Dokument einer vergangenen Epoche, und Logik und Erfahrung geben uns die Mittel in die Hand, das Tor zu einer ungeheuren Kultur aufzustoßen und sje zur Mit-Kultur zu machen. Dreitausend Jahre sind dechiffriert worden. Und so geht es immer weiter; neue Relikte, neue Spuren, neue Dokumente werden zufällig gefunden oder werden bewußt gesucht und gefunden und erschließen minutiöse Vorgänge oder gewaltige, zwischen Stern-

Perioden ausgespannte Zeiträume. Hier spielt sich ein großartiges, verschwiegenes Fährtensucher- und Zeitfahrertum ab (dessen Patron und legendäre Gestalt der H, G. Weüssche Erfinder der Zeitmaschine ist). Stolzer wohl war die Karavelle des Kolumbus, mit der er den neuen Erdteil entdeckte, aber weittragender sind die Gedanken nüchterner Physiker und Biologen (ich bin mir nicht ganz im klaren darüber, ob die Erforscher der großen • Zeiträume wirklich so nüchtern sind wie der Ton ihrer Feststellungen glauben macht, oder ob sie sich der Romantik, des Rätselhaften, ja, ich möchte fast sagen: des Poetischen, ihrer Entdeckungen bewußt sind. Mich bewegen diese Dinge jedenfalls nicht nur auf der Ebene des Rationalen, sondern sie rufen ein verzaubertes Gefühl hervor, das etw^as mit den Verzauberungen der Mythen und Sagen zu tun haben mag, die eine gestaltungskräftigere, dunklere, blutvollere Zeit einfach erfand, da sie noch nicht so tief gesunken war, nur entdecken zu können). Doch dies wirklich nur in Parenthese. Vielleicht sind wir nur noch nicht so weit, den Gehalt wissenschaftlicher Entdeckungen zu Bildern verdichten zu können; und das Gefühl der Verzauberung, das in manchem auch angesichts der Leistungen nüchterner Wissenschaften aufsteigen mag, ist vielleicht kei“ Nachklang, sondern eine Vorahnung.

Und sind die Märchen nicht schon da?

Was sagt man zum Beispiel zur jüngst gemachten Entdeckung, daß man den Lebenszyklus einer vor 100 Millionen Jahren verstorbenen Meeresschnecke durch Analyse ihrer Schale rekonstruieren könne? Am relativen Gehalt der Sauerstoffisotope 16 und 18 im Schalenkalk läßt sich berechnen, bei welcher Temperatur und in welchen Schichten des Meeres das Tier gelebt hatte, ob es immer in derselben Tiefe verweilt hatte, oder ob es als winzige Larve in die kühlen Bereiche des Ozeans hinabgestiegen war, um als geschlechtsreifes Tier wieder an die Oberfläche zu kommen. Und es klingt fast gar nicht mehr wie ein Witz, wenn Nobelpreisträger Harold Urey, auf den diese Entdeckungen zurückgehen, am Ende eines Vortrages sagte: „ ... und schließlich starb das Tier am 4. April.“ In dieser Art lassen sich noch unbegrenzte Beispiele anführen, die alle die zeitlichen Dimensionen unseres Weltbildes vergrößern, die wie romantische Ausfahrten unseres Geistes in die Vergangenheit anmuten. Und die Steinchen, die wir mühsam aus der Vergangenheit herausbrechen, fügen wir zu einem Mosaik der Zukunft zusammen. Diese Einheit von Entzifferung der Vergangenheit und Erahnung der Zukunft wird am deutlichsten in der großartigsten und abenteuerlichsten Dechiffrierung, an die sich Menschen wagen können: der Kosmologie. Hier sind es nicht bloß fossile Knochen oder abgelagerte Schneckenschalen, die dem forschenden Geist begegnen, sondern Planeten, Fixsternsysteme, extragalaktische Nebelmassen, Lichtbündel, die Millionen Jahre unterwegs waren. Energien, die den ganzen Kosmos in ununterbrochenem Rhythmus durcheinanderwirbeln, und wenn irgendeiner geistigen Forschungsfahrt der Rang des Abenteuers zugeschrieben werden kann, so dieser Begegnung zwischen dem Kosmos und der lebendigen, schauenden, denkenden Gestalt des Menschen. Die Enfernungen, die behandelt werden, sind so riesig, daß die Unterscheidung in Vergangenheit und Zukunft fast sinnlos wird. Alles, was geschehen kann, ist — zumindest in nuce — schon geschehen. Der Mensch ist jener winzige archimedische Punkt, von dem aus die „Gelenke und Achsen“ des Kosmos sichtbar werden.

Hier nun wird die Entzifferung der Natur zu einem wirklich romantischen, ja doch: zu einem poetischen Ereignis!

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