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Reichtum auf Halmen

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Auf der blendendweißen Eisdecke des Neusiedlersees herrscht derzeit emsige Geschäftigkeit. Arbeiter mit Traktoren und Ladefahrzeugen dringen in den dichten, bis zu drei Kilometer breiten Schilfgürtel und schneiden zu Millionen die Halme, die wie ein unübersehbarer Wald von Lanzen aus der Eisfläche des Sees ragen. Wo im Sommer die beschauliche Ruhe eines vom Massentourismus noch nicht berührten Gebietes ihren Reiz ausstrahlt, dröhnen in diesen Wochen die Motoren: die Schilfernte auf dem östlichsten See unseres Landes ist im vollen Gange.

Zeitig im Morgengrauen fahren zahlreiche Omnibusse durch die Häuserzeilen der burgenländischen Dörfer, um die Arbeiter aufzunehmen und sie rasch zu den Einsatzstellen im Schilf zu bringen. Höchste Eile tut not, denn die frostigen Tage, an denen das Eis die Last der schweren Fahrzeuge zu tragen vermag, müssen genützt werden.

Die frühere Art der Ernte vom Boot aus ist überholt. Heute ziehen Traktoren eigens für diesen Zweck konstruierte Mähmaschinen durch das Schilf, das knapp über dem Eis abgeschnitten und anschließend von Garbenbindern gebündelt wird. Auf höher gelegenen Uferböschungen trägt man dann die Seegarben zu großen Depots zusammen. Pyramidenförmig aufgestapelt, bleiben sie hier, bis sie im Laufe des Sommers zur Verarbeitung in die Fabrik geholt werden.

Manchmal beträgt die Ernte in einer Saison eine halbe Million solcher Garben. Rechnet man 800 Halme pro Bündel, kann man sich ungefähr ein Ausmaß von den Schilfmengen machen, die jährlich innerhalb weniger Wochen aufs Trockene gebracht werden.

In diesen Tagen der „Hauptsaison” arbeiten mehrere tausend Menschen im Schilf. Gerade für die burgenländische Bevölkerung, der es weitgehend an Arbeitsmöglichkeit im eigenen Land mangelt, eine große Chance.’ Besonders den kleinen Landwirten bietet die jährliche Rohremte eine willkommene Verdienstmöglichkeit. Die einzelnen Familien bilden meist eine eigene Erntegruppe mit drei Leuten und einem Traktor. Ihr Verdienst pro Tag: 500 Schilling und mehr. Wer also tüchtig ist und die harte Arbeit auf der glatten Eisfläche nicht scheut, erhält am Ende der Erntezeit eine schöne Summe.

Kaum ein Beruf läßt sich so mit dem des Bauern vergleichen, wie der des Schilfschneiders: wenn sich im Herbst die ersten zarten Eiskrusten bilden, hofft er auf stärkeren Frost. Denn wie der Bauer zur Erntezeit, ist auch der „Schilfbauer” dem Wetter ausgeliefert. Im letzten Jahr zum Beispiel war um diese Zeit schon der Großteil des Schilfes geschnitten. Der See war viel früher zugefroren.

Heuer konnte im gleichen Zeitraum kaum ein Drittel abgeerntet werden.

Sieben bis acht Minusgrade machen das Eis für mehrere Tage tragfähig. Ist es wärmer, brechen die Traktoren ein, und die Männer versinken im Schneeschlamm. An eine Ernte ist nicht zu denken.

Im Sommer hat es der Bauer allerdings ungleich schwerer. Während er nur das ernten kann, was er im Frühjahr dem Boden an Saatgut und Pflanzen anvertraut hat, braucht der Schilfbauer lediglich das Wachsen der Rohre zu verfolgen. Denn ohne daß jemand sät oder setzt, wächst der Schilfwald Jahr für Jahr neu aus dem meist nur einen Meter tiefen Wasser des Sees.

Der Schilfrohrvorrat geht solcherart nie zu Ende. Im Gegenteil: je besser das Rohr abgeemtet wird, um so kräftiger wächst es im nächsten Jahr wieder nach. Unermüdlich sprießen die langen, bis zu 2,50 m hohen Halme, die innen hohl sind und deshalb für die Bauindustrie eine so große Bedeutung erlangt haben.

Durch den Hohlraum erhielten die Halme als Schallisoliermittel besonders in der Baubranche größte Beachtung. Wie oft hört man über die schallundichten Wohnungen klagen. Eine nur drei Zentimeter starke Schilfrohrplatte unterbindet garantiert solche unerwünschten Störungen. Ihr Wärme- und Schallschutz ist einer 35 Zentimeter starken Vollziegelmauer gleichzusetzen. Verständlich, daß deshalb ein Sturm auf den Rohrreichtum im Neusiedlersee eingesetzt hat, um so mehr, als sich herausstellte, daß das Schilf vom Burgenland qualitätsmäßig zu den besten Sorten zählt.

Das ganze Jahr über werden die Rohre auf den Depots nach Längen (von 1,20 bis 2,50 Meter) aussortiert und neuerdings gebündelt. Wenn die Ballen nicht direkt in viele Länder Europas und nach Amerika zum Versand kommen, werden sie in die Verarbeitungsstätten gebracht.

Besonders in Amerika setzt sich dieses neue Material als Bau- und Dekorationsstoff immer mehr durch. Die Matten erfreuen sich als Sonnenschutz, Wandverzierung und Dekorationsstoff immer größerer Beliebtheit. 90 Prozent der jährlichen Schilfernte werden deshalb ins Ausland geliefert: nach Deutschland, Belgien, Holland, Frankreich und in die Schweiz. Per Schiff verlassen viele Tonnen Roh- und Fertigware von Triest aus Europa: in Richtung Amerika. Dėr Bedarf ist so groß, daß in den letzten Jahren die Ernte im Gebiet des Neusiedlersees nicht ausreichte. Lieferungen aus Rumänien mußten die Produktionslücken stopfen helfen.

Die Nachfrage steigt ständig. Immer größere Mengen Schilf verlassen das Burgenland. Und Jahr für Jahr sprießen neu die Halme im See — im Sommer den vielen Tieren zur Freude, im Winter dem Menschen zum Nutzen. Der See spendet unermüdlich seinen Reichtum. Die Burgenländer haben das erkannt!

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