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Reimmichl

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Die Epoche von 1865 bis 1870 hat dem Lande Tirol eine ganze Reibe von bedeutenden Schriftstellern und Künstlern geschenkt: Schönherr, Wallpach, Schrott-Fiechtl, Schul-lerij, Greinz, Br. Willram, Egger-Lienz geboren dieser Generation an; Namen, die weit über die Grenzen Tirols hinaus bekannt sind, auch wenn mancher von ihnen das Tiroler Volk nach seiner Art und Meinung verzeichnet hat. Trotz ihrer Berühmtheit sind aber diese Namen nur einem Bruchteil des Tiroler Volkes bekannt. Hingegen gibt es keinen Tiroler, der den Namen Reim-m i c h 1 nicht kennen würde oder der nicht schon eines oder mehrere seiner Werke gelesen hätte. Die Literaturgeschichte sagt über ihn, daß er „für seine bäuerlich handfesten, gemütvollen vaterländischen Geschichten nicht bloß das Ohr der Menge, sondern auch einer geistigen Auslese“ gewonnen hat.

Der Name „Reimmichl“ ist im Verlaufe der Jahrzehnte so volkstümlich geworden, daß darüber der eigentliche Name Sebastian Rieger fast vergessen und vielen überhaupt nicht bekannt wurde. Unter diesem Pseudonym veröffentlichte der Dichter seine ersten Arbeiten im „Tiroler Volksboten“ 1894. Er war damals Kooperator in Sexten, wo er oft den Erzählungen eines alten Originals lauschte, das Michl hieß. Unter „Reimen“ versteht man im Pustertal nicht das Verseschmieden, sondern das „Aufschneiden“ beim Erzählen, das Jägerlatein. Rieger veröffentlichte zuerst die Geschichten seines alten Gewährsmannes unter dem Titel „Was der Reimmichl erzählt“ und behielt in der Folge diesen Namen für sich selber bei.

Wie der Reiimmicbl noch heute jede Art öffentlicher Zurschaustellung seiner Persönlichkeit ängstlich meidet, so vermied er sie schon damals. Nicht einmal seine besten Freunde wußten, daß er der „Reimmichl“ war. Erst nach einigen Jahren gelang e seinem Freunde und Nachbarkooperator, Bruder Willram, durch einen Zufall das Geheimnis zu lüften.

Einfach und anspruchslos wie die Persönlichkeit des Dichters ist auch sein Lebensweg.

Vor nunmehr 80 Jahren, am 28. Mai 1867, wurde er luf einem kleinen Bauernhof in St. Veit in Defereggen geboren. Was Hermann von Gilm vom benachbarten Windisch-matrei sagt:

„Die Erde tragen wir auf unserm Rücken

Auf kahlen Sandstein, daß er uns ernähre“, das gilt ebenso von der Heimat Reimmichls, wo die kargen Bauerngüter am Berghange kleben und wo man auch heute noch Jahr für Jahr das „Erdaufrennen“ durchfuhren muß, um den im Verlaufe des Jahres herabgerutschten, spärlichen Humus auch auf die oberen Teile des abschüssigen Ackerfeldes zu verteilen. Deshalb haben sich die Deferegger chon früh zusätzliche Verdienstmöglichkeiten gesucht. Wenn die bäuerliche Jahresarbeit getan war, gingen sie für das Winterhalbjahr uf Handelschaft; manche als Hausierer mit Decken, Wetzsteinen und Birnmehl. Anderen

Eelang es im Verlaufe der Jahre, irgendwo l der Fremde größere Geschäfte ^u gründen.

Schon am Beginne des 19. Jahrhunderts finden sich solche Deferegger Handelsleute von Italien bis Rußland, von der Türkei bis Holland. Auch Reimmichls Großvater war bis Holland gekommen und sein Vater war maßgebend beteiligt an der Gründung einer umfangreichen Strohhutfabrikation in Domschale in Krain. Dort haben seitdem zahllose Deferegger ihren winterlichen Verdienst gefunden, und erst die Stürme der letzten Jahre haben das ehemals blühende Unternehmen vernichtet.

Von dieser Wanderlust seiner Landsleute hat Reimmichl ein Gutteil geerbt und zugleich damit auch die Aufgeschlossenheit für das Weltgeschehen. Aber ebenso wie seine Vorfahren und Landsleute von allen Wanderungen wieder auf ihren heimatlichen Hof heimkehrten und dort bis an ihr Lebensende die bäuerliche Arbeit verrichteten, so ist auch für den Dichter seine Tiroler Heimat der Wurzelboden geblieben, dem letzten Endes alle Gewinne seiner Wanderungen zugute kamen.

Noch lange bevor Reimmichls Werke in Buchform herauskamen, erschienen sie im „Tiroler Volksboten“, dessen Redakteur der Dichter lange Jahre war und der durch seine Arbeit das meistgelesene Blatt Tirols wurde. Es war ihm darum zu tun, im Tiroler Volk das Bewußtsein und die Pflege des heimischen Brauchtums zu fördern und ihm den ganzen Reichtum der christlichen Gedankenwelt zu erschließen. Es geht dem Dichter in seinen lustigen und leidigen Geschichten nicht darum, in den dunklen Tiefen der menschlichen Seele unergründlichen Problemen nachzuforschen. Er will auch nicht Bitterkeit und Haß wecken, sondern seine Leser froh machen. Darum lösen sich bei ihm alle Geschicke zuletzt im Licht auf. Es rruß nicht immer das Erreichen des Zieles Sein, das sich die handelnden Personen zuerst gewünscht haben; auch wenn die Handlung in scheinbarem Leid endet, ist dieses Leid trotz aller Bitterkeit verklärt im Wissen um einen letzten Sinn des Schicksals, den vielleicht der Mensch selbst nicht fassen kann, von dem aber der Vater im Himmel weiß.

Die Menschen in den Reimmichl-Ge-schichten sind die Menschen des TirolerVolkes, unter dem der Dichter selbst sein ganzes Leben verbracht hat. Er ist ihnen selbst begegnet, diesen Schalksnarren „Kreuzkaspar“ und „Fexpeter“ und hat sich oft genug ihre Redewendungen in seinem Notizbuch aufgezeichnet. Er hat auch in die heimlichen Herzkamimern seiner Landsleute hineingeschaut und weiß vom stillen Sehnen und Leiden darin. Deshalb versteht er es, ihre Sprache so zu sprechen, daß ihn alle verstehen. Darum ist auch eines der wenigen Gedichte, die er geschrieben hat, unversehens zum Volkslied geworden, bei dem kaum einer von denen, die es singen oder hören, davon weiß, daß es vom Reimmichl ist: „Tirol ist lei oans“. x

Die Werke von Reimmichl umfassen gegenwärtig mehr als 50 Bücher, die meisten von ihnen in vielfacher Auflage. Vieles ist noch nicht in Buchform erschienen, sondern noch in alten Jahrgängen des Volksboten verstreut. Dazu kommen nodi 25 Jahrgänge des „Reimmichl-Kalenders“, der seit 1920 erscheint und dessen Jahresreihe nur durch die letzten Jahre des Krieges unterbrochen wurde. Der weitaus größte Teil dieses Kalenders wird vom Reimmichl Jahr für Jahr selbst geschrieben. Volkskundlich besonders wertvoll ist darin das K.ilendarium mit seinem reichhaltigen Heiligenverzeichnis und mit allen alten Namen der merkwürdigen Kalendertage sowie den alten Bauern- und Wetterregeln.

Die zwei Weltkriege, die Reimmichl miterleben mußte, haben in seinem Schaffen jedesmal eine Unterbrechung gebracht. Das Leid des ersten Krieges und die dem Kriege folgende Zerreißung seines Tiroler Landes haben das Gemüt des Dichters so schwer getroffen, daß er für einige Zeit überhaupt verstummte. Erst als es ihm durch die Hilfe amerikanischer Leser seiner Geschichten möglich wurde, tatkräftig zur Linderung der Not jener Nachkriegszeit beizutragen, erwachte auch seine alte Fabulierlust aufs neue. Im zweiten Weltkrieg waren es mehr die äußeren Hemmungen, die es dem Dichter unmöglich machten, an die Öffentlichkeit zu treten. Es war für ihn von Anfang an kein Zweifel daran möglich, daß Österreich wieder erstehen werde. Deshalb hat er auch in der Zeit des erzwungenen Schweigens unermüdlich gearbeitet. Denn trotz seiner 80 Jahre hat er sich sein jugendfrohes Gemüt bewahrt, das sein ganzes Leben lang die eigentliche Quelle seines Schaffens war.

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