Federmann - © Foto: Privat

Reinhard Federmann: „Der Fremde war ich“

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Vor 100 Jahren wurde Reinhard Federmann geboren. Auch sein Werk widerlegt die These vom Nachkriegsschweigen.

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Vor 100 Jahren wurde Reinhard Federmann geboren. Auch sein Werk widerlegt die These vom Nachkriegsschweigen.

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Es ist eine hartnäckig immer wieder und immer noch vertretene These, dass die österreichische Nachkriegsliteratur erst ab den 1960ern die damals nahe Vergangenheit thematisierte. Evelyne Polt-Heinzl, die wie kaum eine andere die Mythen und Legenden über diese Zeit aufdeckt und jahrzehntelang Überliefertes durch gründliche Recherchen kritisch hinterfragt, listet in ihrer Studie über die Literatur nach 1945 („Die grauen Jahre“, Sonderzahl 2018) hingegen zig literarische Titel auf, die bis 1965 erschienen und sich mit der Zeitgeschichte auseinandersetzten.

In dieser beachtlichen Liste, in der man viele vergessene Autorinnen und Autoren entdecken kann, findet sich auch Reinhard Federmanns Roman „Das Himmelreich der Lügner“. Darin werden nicht nur detailliert politische Entwicklungen der 1930er Jahre beschrieben, vor allem die Vorgänge im Februar 1934, ein Kapitel imaginiert auch die Vernichtung eines jüdischen Protagonisten in der Gaskammer. Von einem Verschweigen kann hier keine Rede sein, ganz im Gegenteil thematisiert dieser 1959 erschienene Roman die Notwendigkeit des Erinnerns.

Von den 1930er Jahren bis 1956

Reinhard Federmann, der am 12. Februar 1923 in Wien geboren wurde, lässt in diesem nun im Picus Verlag neu aufgelegten Roman seinen Ich-Erzähler Bruno Schindler sich erinnern. Ausgangspunkt ist der Dezember 1956, der Ungarnaufstand wurde soeben mit voller Gewalt niedergeschlagen. Schindler hat seine eigenen Notizen aus dem Jahr 1934 wiederbekommen, er liest sie, versucht sich an das politische Geschehen zu erinnern und auch seine eigene Rolle und die seiner sozialdemokratischen Freunde zu reflektieren. Er wollte damals nicht mehr Zuschauer sein, meint Schindler, und wurde daher Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend.

Es beginnt damit, dass Nationalsozialisten seinen Freund Heinz in Wien niedergeschlagen haben, es beginnt damit, dass der Jusstudent Bruno noch an Recht und Gerechtigkeit glaubt und einen Anwalt engagiert, um dann ernüchtert feststellen zu müssen: Vor diesem Gericht wird nicht der Jude recht bekommen. Das alles wird erst ein Anfang gewesen sein.

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Den 1930er Jahren widmet Reinhard Federmann in seinem Roman ‚Das Himmelreich der Lügner‘ ein besonderes Augenmerk.

Den 1930er Jahren widmet Federmann in diesem Roman ein besonderes Augenmerk. Sehr konkret werden Daten und Orte erzählt, Geschehnisse, die zur Ausschaltung des Parlaments im März 1933 führten. Auch die soziale Lage kommt in den Blick: Die Armen „waren ausgesteuert. Der Staat verlangte nichts von ihnen und half ihnen nicht, er rechnete nicht mehr mit ihnen.“ Und: „Eine Regierung, die nicht mehr Geld genug in der Staatskasse hat, ihre Beamten zu bezahlen, ist am Ende, und eine Regierung, die am Ende ist und doch nicht an ihren Rücktritt denkt, ist gefährlich.“ Gefährlich wird sie zunächst einmal den streikenden Arbeitern, gegen die sie mit voller Härte vorgeht. Gezielt wird Schritt um Schritt die Demokratie abgebaut; der drohende Ton der „Regierungspresse“, die Verhaftung der Gewerkschaftler, die Vorzensur der Arbeiter-Zeitung, die Zerschlagung der Arbeiterbewegung, das Standrecht, die Hinrichtungen … „Auch wenn die Freiheit stirbt, wollen wir das nicht wahrhaben. Im Herbst des Jahres 1933 wusste die ganze Welt, dass uns nicht mehr zu helfen war. Nur wir wollten es nicht glauben.“

Vor allem der 12. Februar 1934 wird aus der Sicht von Bruno Schindler ausführlich beschrieben – und die Tage danach, die Kämpfe, die Schüsse auf Gemeindebauten und Familien, bis Schindler schließlich merkt, dass ihnen das Ausland nicht wie erwartet zur Hilfe kommen wird: „Abends: Die Tschechen waren nicht gekommen, auch die Franzosen nicht, niemand war uns zu Hilfe gekommen, und jetzt endlich wussten wir, dass alles aus war. An diesem Tag, dem 15. Februar, erstürmte Militär den Goethehof, die letzte Bastion der Republik, von der nun nichts mehr übrig geblieben war als die Buchstaben der allseits beschworenen Verfassung auf dem Papier, Flüchtlinge, Gefangene und Tote.“

Die Schubfächer der Archive

Schindler flieht zunächst in die Tschechoslowakei, dann in die Sowjetunion. Dort wird er in das unmenschliche System des Stalinismus verstrickt, was er durchaus bemerkt: „Es war meine Pflicht, das Gegenteil von dem, was ich erkannt hatte, deutlich und mit lauter Stimme hinauszuschreien. Es war meine Pflicht, meine Freunde zu verraten. Sie zu beschimpfen. So zu tun, als hätte ich sie nie gekannt. Sie in Ketten zu legen und in ihrem Gestank ersticken zu lassen. Sie zu erschießen. Und als ich mir die scheinbar akademische Frage vorlegte, ob ich das alles im entscheidenden Augenblick wirklich tun würde, sprang mir unversehens die Antwort ins Bewusstsein: Du hast es ja schon getan.“

Im Herbst des Jahres 1933 wusste die ganze Welt, dass uns nicht mehr zu helfen war. Nur wir wollten es nicht glauben.

Reinhard Federmann

Es gibt so vieles, „was die rettenden Schubfächer der Archive nie erreicht“. Reinhard Federmann erzählt in Rückblenden und Reflexionen, lässt seinen Erzähler sich selbst und die Glaubwürdigkeit seiner Erinnerungen befragen, thematisiert dabei auch die Bedeutung von Schreiben und Erinnern – und rekonstruiert die Vergangenheit durch Fiktion, indem er etwa beschreibt, wie Heinz Rubin in die Gaskammer geschickt wird. Jener Heinz, der wie so viele Juden nach dem Krieg einfach verschwunden sein wird. Die Literatur ist es, die den letzten Gang zu den Mördern mit ihm geht und von ihm erzählt.

Und nach 1945? Da sitzen in Wien der Christlichsoziale und der Sozialdemokrat beisammen, als wäre nichts gewesen. „Die beiden verstanden sich gut, und einem Unbeteiligten wäre es nicht im Entferntesten eingefallen zu behaupten, dass hier zwei politische Gegner zusammensaßen, zwei Männer, die irgendeinmal, in ferner Vergangenheit, aufeinander geschossen hatten. Es war nicht viel Unterschied zwischen ihnen: Sie waren zwei freundliche Herren, der eine über fünfzig, der andere knapp darunter, sie sprachen den Jargon der Privilegierten, sie trugen auch ein bisschen Verantwortung, das merkte man an ihren neuen Anzügen und an ihren gemessenen Bewegungen, aber sie machten sich nicht viel daraus, das merkte man an ihrer Lachlust und an der Sorglosigkeit, die ihnen aus den von Falten umkränzten Augen leuchtete. Sie hatten, das war ihnen ohne große Mühe anzumerken, das Schlimmste hinter sich und keine Neigung, sich künftig noch Schlimmes aufzuladen.“ Und Schindler merkt: „Der Fremde war ich.“

Anders als sein Ich-Erzähler Bruno Schindler war Federmann, dessen Vater 1938 als von den Nationalsozialisten so genannter „Halbjude“ als Richter in Wien entlassen worden war, 1942 als Soldat eingezogen worden. Er geriet in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1945 entlassen wurde.

Er begann Jus zu studieren und zu schreiben: Zeitschriften- und Zeitungsartikel, Hörspiele, Essays und Sachbücher, Kriminalromane und Romane. Wie etwa „Das Himmelreich der Lügner“, in dem er sich mit den Auswirkungen totalitärer Systeme – „Austrofaschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus“ – auseinandersetzte und die Rolle des Einzelnen hinterfragte. Nicht als harte Brüche erscheint bei ihm die Geschichte nach 1933, sondern als eine der Kontinuitäten.

Das Himmelreich der Lügner - © Foto: Picus
© Foto: Picus
Buch

Das Himmelreich der Lügner

Roman von Reinhard Federmann
Picus 2023
528 S., geb., € 30,–

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