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Reise ins Potemkinsche Dorf

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Das Echte bleibt für den Touristen im verborgenen. Die Bereisten verstecken ihre Kultur vor ihm, um sie zu bewahren.

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Das Echte bleibt für den Touristen im verborgenen. Die Bereisten verstecken ihre Kultur vor ihm, um sie zu bewahren.

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Playa del Carmen auf der mexikanischen Halbinsel Yucatan ist eine drei-geteilte Stadt: Der südliche Teil, direkt an der ka-ribischen See, ist ein künstlich aus dem Boden gestampfter Komplex für nordamerikanische und europäische Touristen, die einen Radeurlaub unter der tropischen Sonne genießen wollen. Inmitten eines blitzsauberen Parks liegen gepflegte Wohnanlagen; alles sieht sehr, sehr mexikanisch aus, doch Mexikaner sind hier einzig die Gärtner und Kell-• ner. Das ganze Areal ist von Stacheldraht umgeben und wird von bewaffneten Sicherheitsbeamten bewacht.

Nördlich davon, ebenfalls direkt am Meer, liegt das pulsierende Zentrum der Stadt, das nur aus Bars, I Iotels, Restaurants und Souvenirläden zu bestehen scheint. Immerhin, dieser Stadtteil ist auf natürliche Weise gewachsen und keine Simulation, so wie das sta-cheldrahtbewehrte Mexiko-Disneyland. Doch bevölkert werden der Hauptplatz und die Fußgängerzone fast ausschließlich von Individualtou-risten - jenen Beisenden, denen Künstlichkeit und Sterilität clubartiger Hotelanlagen mißfällt und die das „echte" Mexiko kennenlernen wollen.

Doch das echte Mexiko beginnt erst ein paar Blocks landeinwärts: Dort, wo an kleinen Ständen Tacos - gefüllte Fladen aus Maismehl - verkauft werden, die kein Europäer zu essen wagt;iwo in schmutzigen Cantinas - für Frauen und Uniformierte heißt es: Eintritt verboten - schnauzbärtige Männer in weißen Tropenhemden Tequila trinken; wo schrottreife Autos über staubige Straßen holpern, begleitet von sinnlosen, weil unentwegten Pfiffen eines wild gestikulierenden Verkehrspolizisten. Dorthin verirrt sich kaum ein Tourist.

Die Welt der Touristen und das echte Mexiko (oder Thailand oder Indonesien oder welches Land auch immer) trennt eine tiefe Kluft. „Was der Beisende zu sehen bekommt, ist ein Potemkinsches Dorf", bestätigt Franz Kolland, Dozent am Institut für Soziologie der Universität Wien: „Salopp gesagt: Das ,Echte' bleibt für Touristen immer im verborgenen"

Für jene, die in einer abgeschirmten Hotelanlage auf der faulen Haut liegen und es sich gutgehen lassen wollen, ist das kein Problem. Ob sie unter der Sonne Tunesiens oder der Malediven herumliegen, ist ihnen gleichgültig; sie wollen nur frei sein von den Zwängen des Alltags und des Arbeitslebens. Wer für all inclusive im Fünf-Sterne-Hotel bezahlt hat, hat kein Bedürfnis, mit Armut in Form von Bettlern oder Kleinkriminalität in Form betrügerischer Taxifahrer konfrontiert zu werden; die Realität ihres Beiselandes schert sie keinen Deut.

Individualtouristen hingegen wollen ein Land und seine Kultur auf eigene Faust entdecken. Die einen versuchen dies mittels exzessiven Besichtigens von Kulturdenkmälern zu bewerkstelligen, die anderen, indem sie danach trachten, in die Lebenswelt des kleinen Mannes ihres Beiselandes einzutauchen. Stets blicken sie mit Verachtung auf die Pauschaltouristen, die nichts von ihrem Urlaubsland mitbekommen (siehe Seite 14)-doch ihnen ergeht es kaum besser: „Der Bereiste muß sich in hohem Maß an den Beisenden anpassen und entwickelt deshalb einen latenten Widerstand", weiß Soziologe Kolland: „Die echte Kultur wird vor dem Touristen versteckt" Der Tourist wird immer nur als Tourist gesehen, dementsprechend behandelt und auf für ihn vorbereitete Pfade gelenkt. Ihm wird erzählt, was die Touristen, die vor ihm da waren, hören wollten. Mit dem wirklichen Leben hat dies oft wenig zu tun -selbst Ethnologen, von Berufs wegen mit fremden Kulturen beschäftigt, werden bisweilen in die Irre geführt. Dem Touristen wird „landestypische" Folklore vorgeführt, die zwar tatsächlich einer Tradition entspricht, von den Einheimischen in dieser Form aber nicht mehr gelebt wird. Auf einem echten Einheimischen-Fest ist für den Touristen kein Platz - außerdem ist es fraglich, ob seine Erwartungen erfüllt würden: Von Borneo bis Belize ziehen die Menschen die landesübliche westlich beeinflußte Schlagermusik der als vorsintflutlich betrachteten traditionellen Musik vor. (Osterreich ist mit seinen Hansi Hinterseer da nicht anders) In Afrika zum Beispiel sind Blue Jeans und Baseballmütze Alltagsklei-dung, nicht die vom ungebildeten Beisenden erwarteten und vom Bildungsbürger als traditionell und daher authentisch erachteteten Bast röckchen und Federkopfschmucke. Bei jener „original Stammeskunst", die auch kulturbeflissene Afrika-Bei-sende auf Märkten kaufen können, handelt es sich selbstverständlich n icht um echte Kultgegenstände, son -dem um speziell für Touristen gefertigte Ware. Welche Gläubigen würden denn geweihte oder gar heilige Objekte einem wie Heuschrecken einfällenden Schwärm Fremden überlassen?

Man stelle sich nur vor: Ein burgenländischer Dorfpfarrer verscherbelt geweihte Hostien an japanische Touristen...

„Die Reisenden wollen Kultur vom Bereisten haben, die Bereisten wollen das Geld des Beisenden", faßt Soziologe Kolland das Paradoxon des Tourismus zusammen.

Was kann der Reisende tun, um diesem Dilemma zu entkommen? Die Landessprache fließend zu beherrschen ist eine Voraussetzung; über lange Zeit im entsprechenden Land zu leben eine andere. Das wichtigste jedoch ist, dem Einheimischen nicht das Leben %'mes Müßigängers vorzuleben, der es sich gut gehen läßt, ohne sichtbar dafür zu arbeiten. Genau dies tun Urlauber ja - denn sie sind ja schließlich auf Urlaub. Durch Arbeit in den Alltag eingebunden zu sein, ist sicher die beste Voraussetzung, um ein Land wirklich kennenzulernen.

Doch dann ist man kein Reisender mehr.

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