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Renaissance der Studienreisen

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Kirchen und Ruinen, ein Dutzend pro Tag? Mitnichten: Studienreisen haben sich in den letzten Jahren gewandelt wie noch nie.

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Kirchen und Ruinen, ein Dutzend pro Tag? Mitnichten: Studienreisen haben sich in den letzten Jahren gewandelt wie noch nie.

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Der alte Professor mit dem Sprachfehler, der die Studienreise in Rom führt, springt um achtzehn Uhr dreißig aus dem Bus und ruft begeistert aus: „Vor dem Abendessen haben wir noch eine gute Stunde Zeit, da zeige ich Ihnen zusätzlich noch das Ruinenfeld der Area Sacra Argentina, und gleich daneben ist die Kirche AI Gesü, die dürfte noch offen haben -wenn wir schon mal da sind ..." Von den siebenundvierzig Gästen bleiben zwanzig apathisch im Bus sitzen, in ihren Hirnen kreist ununterbrochen der zwanghafte Gedanke: Wasser, Dusche, Bier, Wasser ...

Stellen Sie sich so eine Studienreise vor? Die führenden Veranstalter sehen dies nicht so. Sie haben in den letzten zwanzig Jahren eine beinahe unübersehbare Fülle von neuen Reiseformen geschaffen und arbeiten an einem neuen Image für Kulturreisen.

Das Klischee der Trümmertour ist out. In den fünfziger und sechziger Jahren wollte man in möglichst kurzer Zeit möglichst viel sehen. So intensiv wie möglich. Inzwischen haben sich die Reisebedürfnisse und Ansprüche stark gewandelt. Einerseits kennt man schon das Wichtigste, und die Interessen sind spezieller geworden. Hans Wernhart von Studiosus Reisen (München) sieht allerdings noch einen anderen Prozeß: „Man hat gelernt, daß das rein mengenmäßige In-sich-Hineinschlingen mit Qualität nichts zu tun hat. Während wir uns vor 15, 20 Jahren mit Kunden noch auseinandersetzen mußten: Warum habt ihr denn das nicht im Programm, und da fährt man doch in der Nähe einer Kirche vorbei, das könnte man doch zusätzlich aufnehmen ist man heute so weit, zu akzeptieren, daß es vielleicht mehr bringt, sich zu reduzieren. Daß nicht die zwölfte romanische Kirche in Burgund einem die Augen öffnet für die Romanik, sondern daß es sehr viel mehr bringt, sich intensiver mit weniger zu beschäftigen." Dazu kommen Innovationen der Reiseinhalte, wie Wernhart betont: „Die Fragen des I ,ebens der Menschen heute, des Sozialsystems, des Schulsystems, der politischen Gegebenheiten - also die Alltagsfragen."

Außerdem befriedigt "die Branche natürlich das gestiegene Bedürfnis nach Komfort und Luxus: „Man ist heute nicht mehr bereit, sich mit einfachen Hotels zufrieden zu geben, Zimmer ohne Dusche zu akzeptieren. Man erwartet gute bis sehr gute Küche, ein Frühstücksbüffet..." Die Ansprüche an die Infrastruktur einer Studienreise scheinen manchmal fast wichtiger als ihre Inhalte.

Zu den neuen Bedürfnissen gehört auch die Muße. So bieten Klingenstein & Partner „Kultur & Freizeit"-Reisen an, mit viel freier Zeit für eigene Unternehmungen oder zum Ausspannen. Ebenso TUI. Studiosus kennt sowohl die entsprechende „Freizeit-Plus-Studienreise" als auch die „Studienferien": Man logiert in nur einem schönen Hotel, zentral genug gelegen für Ausflüge. Die Idee dahinter ist, „daß für den einzelnen Reisegast die Möglichkeit besteht, etwas in Ruhe auf sich einwirken zu lassen, sich mal selbst mit einem Thema auseinanderzusetzen, auch mal etwas allein zu unternehmen."

Der erste Schritt weg von der klassischen Reiseform war ein forscher Wanderschritt: Seit 1975 gibt es die Wanderstudienreisen, mittlerweile von den meisten großen Veranstaltern angeboten: Wanderungen am Fuße des Hima-laya, in der finnischen Tundra oder am Mekong auf den Spuren der Thaivölker. Dabei wird der Anspruch einer Studienreise aufrechterhalten, die eher leichten Wanderungen (mit Begleitfahrzeug) sollen mehr Naturerlebnis vermitteln als sportliche Spitzenleistungen.

Der nächste Schritt war ein Tritt: Die Gäste der beliebten Fahrradstudienreisen kurbelten nicht nur ihre Drahtesel, sondern auch die Umsätze an. Vor allen Dingen wird hiermit ein jüngeres Publikum angesprochen. Die Grundidee gleicht der Wanderreise: Eine intensivere Begegnung mit der Landschaft und den Menschen sowie die Möglichkeit, in entspannender Naturkulisse die Kulturerlebnisse zu verarbeiten.

Die typischen Kunden von Studienreisen sind eher ältere Semester, mit einem Durchschnitt von etwa fünfzig Jahren. Damit mehr junge Leute den Einstieg finden, und eine ihnen gemäße Reiseform, erfand Studiosus 1995 Young Line speziell für Leute zwischen 20 und 35. Die betont lockere Gruppe spaltet sich immer wieder in kleinere Grüppchen auf, welche eigenen Interessen nachgehen können: Während zum Beispiel drei Gäste mit der Reiseleitung, die jetzt Reisebegleitung heißt und ganz selbstverständlich „Du" ist, ins Museum gehen, bleibt das junge Pärchen am Strand, mieten sich vier andere Mopeds und düsen durch die Hügel ...

Schon der Katalog liest sich ganz anders. In Form eines Tagebuchs wird lässig-locker (wie man sich's halt vorstellt) das mögliche Szenario jedes Tages angerissen. Der Kaiki-Törn in der Ägäis: „Flaute vor Gerakas. Badestop! Gerakas war ein Schlupfwinkel der Piraten. Vera spinnt Seemannsgarn und geht mit Remy und Hans auf Schatzsuche. Sie holen tatsächlich verkrustete Münzen rauf. Die Währung? D-Mark!"

Das Konzept schlug ein. Im ersten Jahr buchten 1600 junge Leute eine Young-Line-Reise, für heuer werden 3000 Kunden erwartet.

Was aber, wenn schon Kinder da sind? Die Familien als Kunden zu gewinnen, gestaltet sich für die Veranstalter schwierig. Umso erstaunlicher, welche Versuche es in dieser Richtung doch gibt. So bietet Studiosus Fa-milienstudienferien auf Kreta, Zypern, Malta und Israel an. Dabei wird für die Kleinen ein eigenes Programm gestaltet, während die Eltern auf Exkursion sind. Ein andermal fahren alle zusammen auf Entdeckungstour, oder es ist einfach mal Freizeit im Strandhotel: „Mit Kind und Kegel!"

Reisen zu speziellen Gelegenheiten: Sie können die uralten Oster-bräuche auf Sizilien oder in Kastilien miterleben oder die Frühjahrsblüte auf Madeira. Literaturreisen sind berühmten Autoren auf den Spuren.

Eine besondere Art des Kulturtourismus hat sich in den letzten Jahren etabliert: Festspiel- und Ausstellungsreisen. Klingenstein & Partner fahren zum Beispiel zu den Museen St. Petersburgs. Dabei gibt es auch Reisen zu ausgefallenen, sonst kaum bekannten Kulturveranstaltungen. Zum Beispiel bieten Beiart Studienreisen einen Besuch der Festspiele in Macerata in den italienischen Marken an. Auch Musikreisen unter der Leitung eines Musikwissenschaftlers zu bedeutenden Opern- und Konzertfestivals locken.

Um das Spektrum abzurunden, gibt es exklusive Reisevarianten und preislich günstigere, Service-Plus-Reisen mit besonderem Komfort ebenso wie Abenteuer & Natur-Reisen, Studienkreuzfahrten, Städtereisen (die dem Trend zu mehr Kurzurlauben gemäß groß in Mode sind), Spezialtouren für Feinschmecker und für Fotographen ...

Die große Neuheit sind die Studienreisen ä la carte bei Studiosus: Der Kunde kann innerhalb eines mehrwöchigen Zeitraumes an jedem beliebigen Tag an- und heimreisen und sich zum Beispiel in Bom, auf Kreta oder am Golf von Neapel selbst sein individuelles Programm zusammenstellen aus einzelnen Tages- und Abendausflügen. Also Hotel, Reise-dauer und Programm ganz nach Belieben! Diese Innovation zeigt am deutlichsten den allgemeinen Trend, wie Hans Wernhart ihn beschreibt, „daß auf allen Märkten immer mehr Flexibilität verlangt wird. Das gilt gerade auf dem Fernreisesektor. Es gibt Beisen, da fliegt niemand am vorgesehenen Tag nach Australien mit der vorgesehenen Fluggesellschaft... Da müssen wir mehr Servicebereitschaft zeigen, um auf alle derartigen Wünsche einzugehen." Wer Kunden gewinnen will, muß also immer flexiblere Reisen anbieten: „Das ist ein Thema, das uns über Jahre hinaus beschäftigen wird."

Interessant ist, daß die alte Studienreise klassischer Gestalt unter neuem Namen wieder eingeführt wurde: als Intensiv-Variante. Neu ist und bleibt jedoch auch dabei, daß kleine Gruppen in guten oder sehr guten Hotels logieren und größten Wert auf die persönliche Betreuung durch die Rei-seleitung legen. Schließlich gibt es für jemanden, der in relativ kurzer Zeit, und das bedeutet auch preislich günstig, möglichst viel kennenlernen will, mit allem Service und durchorganisiert von A bis Z, nach wie vor kaum Alternativen.

Der Autor ist Studienreiseleiter.

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