Renitente Resignation

Werbung
Werbung
Werbung

Vor 250 Jahren - am 15. September 1756 - wurde Karl Philipp Moritz geboren. Zwei Ausgaben eröffnen

neue Zugänge. Der Roman "Anton Reiser" hat nichts von seinem Schrecken verloren.

Die Aufmerksamkeit des Menschen mehr auf den Menschen selbst zu heften und ihm sein individuelles Dasein wichtiger zu machen" - das nennt Karl Philipp Moritz in der Einleitung zu seinem Anton Reiser als Ziel. Und wer diesen Roman je aufgeschlagen hat, weiß: Der Weg dorthin tut weh. Denn der vor 250 Jahren geborene Autor zwingt sich hinter der Maske des Anton Reiser noch einmal durch die eigene Kindheit, zeigt quälend detailreich die Demütigungen einer Kinderseele. Und er zeigt die deutsche Gesellschaft des 18. Jahrhunderts aus der Perspektive der ausgebeuteten Kinder, die schwere, gefährliche Arbeiten verrichten müssen und von den aufkommenden Bildungsidealen ausgeschlossen sind.

Die verratene Kinderseele

Den ersten Vorabdruck seines Anton Reiser publizierte Moritz 1783 - im selben Jahr, als Kant seine berühmte Definition veröffentlichte: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit." Was bei Kant abstrakte Maxime ist, wird bei Moritz geradezu körperlich erfahrbar: der Ausgang eines Menschen aus seiner Unmündigkeit; und vor allem: wie wenig sie selbstverschuldet ist. Phantasie und Lektüre halten Anton Reiser am Leben, aber der Roman bricht ab, bevor er zu einer aufklärerischen Bildungs-Erfolgsgeschichte werden könnte. Dass Aufklärung billigen Optimismus versprühe und mit ihrer dürren Rationalität kein Auge für die dunklen Ambivalenzen des Menschen habe - diese Klischees aus dem in deutschen Landen so hartnäckig beliebten Arsenal der Gegenaufklärung kann man zumindest auf Moritz nicht abfeuern.

Denn er redete ohne Umschweife und beschwichtigendes Gemurmel einer selten propagierten Haltung das Wort: Resignation - als Voraussetzung für einen ungetrübten, illusionslosen Blick auf Unglück, Qual und Not. In diesem Sinn hat Jean Paul von der "Abwesenheit des Himmels" im Anton Reiser gesprochen: nicht, dass dem Roman die religiöse Dimension fehle - im Gegenteil: Religion wird in ihrer Ambivalenz als überlebensnotwendiges Phantasie-Reservoir wie als Keim der Unterdrückung in der menschlichen Psyche in grelles Licht gerückt -, aber die konsequente Abwesenheit von Erlösung wird dadurch umso quälender.

Wenige Jahre vor seinem Tod mit 37 Jahren hat es Karl Philipp Moritz doch noch zum Professor und Akademiemitglied in Berlin gebracht - geschätzt von der intellektuellen Elite seiner Zeit, sogar vom sechs Jahre älteren Goethe. Doch bald geriet er in eine Vergessenheit, die bis weit ins 20. Jahrhundert dauerte. Kein Wunder, dass sich auch die Neuerscheinungen zum 250. Geburtstag in Grenzen halten, denn Moritz ist für eröffnungsredende Manager und eine Maschinerie leer laufender Kultiviertheit nicht zu verwerten. Zwei Editionen legen den Blick auf Moritz frei: Zum einen der jetzt als Taschenbuch vorliegende erste Band der Werkausgabe mit dem Anton Reiser und den beiden Andreas Hartknopf-Romanen sowie wichtigen Beiträgen zur "Erfahrungsseelenkunde"; dazu werden Sechs deutsche Gedichte abgedruckt - zum ersten Mal seit 1781. Der Kommentar eröffnet zeit-und literaturgeschichtliche Hintergründe, ohne die Lektüre zur gelehrsamen Mühe zu machen. Vor allem die hochironischen Hartknopf-Romane - Moritz nannte sie "eine wilde Blasphemie gegen ein unbekanntes großes Etwas" - verdienen eine neue Lektüre.

Blick auf das Individuum

Im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde wollte Moritz ein Forum der Selbstverständigung schaffen, ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte, denn hier war für ihn jeder Mensch durch sein Menschsein Experte. Nicht nur diese egalitäre Tendenz, sondern vor allem die Relativierung der Vorstellungen von "gesund" und "krank" führten weit über seine Zeit hinaus.

Dazu war Moritz auch der Kunsttheoretiker, der der deutschen Klassiker viel von ihrer Ästhetik vorformulierte: Er sah das Kunstwerk als durch sich selbst gerechtfertigt und außerhalb der Welt der Zwecke und Nutzen. Dazu beschäftigte er sich intensiv mit antiker Mythologie. In seiner Schrift Anthousa oder Roms Altertümer mobilisierte er die antike Festkultur gegen die aufkommende arbeitsteilige Gesellschaft.

Der "ganze" Karl Philipp Moritz ist nicht leicht zu haben. Aber der Journalist und ausgewiesene Moritz-Forscher Lothar Müller hat ein hochintelligentes Lesebuch von und über Moritz zusammengestellt, das alle Bereiche seines Werkes zu Wort kommen lässt und schon in seiner brillanten Einleitung fasziniert. Die alphabetische Ordnung ist keine aufgesetzte Marotte, hat doch gerade das ABC Moritz ein Leben lang beschäftigt.

DICHTUNGEN UND SCHRIFTEN ZUR ERFAHRUNGSSEELENKUNDE.

Von Karl Philipp Moritz. Text und Kommentar. Hg. v. Heide Hollmer u. Albert Meier. Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch Bd. 8, Frankfurt am Main 2006, 1361 Seiten, kart., e 18,50

DAS KARL PHILIPP MORITZ-ABC

Anregungen zur Sprach-, Denk-und Menschenkunde. Hg. v. Lothar Müller

Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2006, 432 Seiten, geb., e 20,50

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung