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Rettet den Menschen!

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Das Wollen

Anknüpfend an die Gedanken Wicherns vor hundert Jahren und ausgehend von den Erfahrungen der „Evangelischen Wochen“ in der Verfolgungszeit der Kirche im Dritten Reich, haben verantwortliche Männer der evangelischen Kirche in Deutschland, Theologen und Nicfattheologen, 1949 in Hannover das Wagnis auf sich genommen, von nun an Jahr um Jahr zu einem Evangelischen Kirchentag aufzurufen. Das Ghetto, in das sich die Kirche immer wieder einsperren ließ, sollte gesprengt, die Türen und Tore zur Welt sollten weit aufgemacht werden. Der Welt sollte die Botschaft gesagt werden, die die Kirche Christi ihr schuldig ist, die Botschaft von dem lebendigen, allmächtigen, heiligen und barmherzigen Gott. Angesichts des gewaltigen Lebensrhythmus schwerer täglicher Arbeit in den Fabriken und Bergwerken, inmitten des Bemühens um die Wiederherstellung der Existenzgrundlagen, aber auch hinein in die tausendfältige Not des Menschen von heute, hinein in die zitternde Sorge unseres Jahrzehnts um die Möglichkeit weiterer friedlicher Entwicklung, hinein in die allgemeine Furcht vor neuen Katastrophen sollte der Kirchentag von Gott Zeugnis geben, der in Christus gekommen ist, um die Welt zu retten; und er sollte das Kirchenvolk aufrufen? im Bereich der säkularen Welt dem Wort Gottes praktisch zu folgen, damit von hier aus in das politische, soziale und wirtschaftliche Leben eine reinigende und heilende Wirkung ausgehe.

Unter diesen Gedanken stand der Evangelische Kirchentag 1950, der im Herzen des rheinisch-westfälischen Industriegebietes, in Esöen, vom 23. bis 27, August tagte.

Der Auftakt

Der Nachmittag des 23. August brachte die feierliche Eröffnung. Zum erstenmal erklang der Bläserruf des Kirchentages, das sieghafte Christ ist erstanden“. Wer

Einlaß gefunden hatte, konnte alle führenden Männer der evangelischen Kirche in Deutschland sehen, unter ihnen die Bischöfe D. D i b e I i u s, D. M e i s e r und D. Lilje und Kirchenpräsident D. Niemöller. Es fehlten aber auch nicht maßgebende politische Persönlichkeiten. Neben dem Bundespräsidenten Prof. H e u ß war Bundeskanzler Doktor Adenauer mit vier Ministern seines Kabinetts, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und der englische Landeskommissar, General B i s h o p, erschienen. Besonders freundlich wurde es aufgenommen, daß die katholische Kirche und das Zentralkomitee des Katholikentages einen Vertreter entsandt hatte und daß der Stadtdechant im Namen der katholischen Einwohner ein Grußwort entbot.

Die Aufgabe

Das Thema des Kirchentages war in vier Arbeitsgebiete geteilt worden. Rettet die Freiheit des Menschen, die Familie, die Heimat, den Glauben. Die Freiheit des Menschen ist bedroht durch Wirtschaft und Technik. Der Mensch, der es versucht, sein Leben ohne Glaubensbindungen zu gestalten, wird zum Arbeitstier und verliert seine Menschenwürde. Nicht minder bedrohlich ist das Kollektiv, es ist die verführerische Dämonie unserer Zeit. Es verspricht dem vereinsamten und ratlosen Menschen Geborgenheit und entpuppt sich als Tyrannei. Das Ziel einer neuen sozialen Ordnung kann nur sein, den Arbeiter aus einer Nummer wieder zum Menschen zu machen, der in eine organische, gottgewollte Ordnung eingegliedert ist. Erst wirkliche Autorität und natürliche Bindung machen ein persönliches Leben möglich und schaffen ein Bollwerk für die Freiheit. Wer gibt sie?

In akuter Bedrohung steht auch die Familie. Die Überbelastung oder die Arbeitslosigkeit lasten als unablässige Sorge auf der Zelle von Volk und Staat. Der Mut zum Kinde fehlt, weil die Sorge um die Zukunft der Kinder in völlige Hoffnungslosigkeit führt. Wie kann sich das wandeln?

Zu den alarmierenden Zeichen der Krise, in der sich unser Kontinent befindet, gehört der vertriebene, der heimatlose Mensch. Der Krieg hat ein unübersehbares Zeichen des Gerichtes gesetzt, das die politischen und gesellschaftlichen Fundamente unseres Lebens erschüttert. Wie kann der Teufelskreis von Schuld und Vergeltung durchbrochen, wie kann im Glauben an die Versöhnung ein Neubau im Zusammenleben der Menschen und Völker, die aneinander schuldig geworden sind, beginnen?

Kann die Kirche die Lösung dieser Fragen geben? Wird die Botschaft der Kirche nicht weithin als unglaubwürdig angesehen? Wo sind die Gründe dafür zu suchen, liegen sie am Ärgernis, das die Welt an den sogenannten Frommen nimmt?

Das waren die Fragen, um deren Lösung es ging.

Die Arbeit

Seit Monaten war der Kirchentag in den Gemeinden und Verbänden vorbereitet worden. Nun sollte in den großen Arbeitsgruppen, die tausend bis dreitausend Menschen umfaßten, der Zusammenklang der Einzelarbeit erfolgen. Man wollte nicht kritisieren, man wollte auch nicht eine Diagnose unserer Zeit stellen, wie sie in den letzten Jahren oft genug gestellt worden war. Die Christenmenschen sollten zur Verantwortung gern fen vvrHen, und zwar jeder einzelne unter den Tausenden. Ihm und ihm allein, nicht etwa einer wesenlosen Masse, sollte das Gewissen geschärft werden.

Nach einer Bibelarbeit, die für das Kommende schon Wegweisung aus Gottes Wort geben sollte, wurde in zwei oder drei kürzeren Referaten das schon Erarbeitete dargestellt und die Plattform für die Aussprache gegeben. Der Nachmittag war der Aussprache vorbehalten, ein Versuch, dem mancher wohl sehr kritisch gegenüberstand. Kann eine solche Aussprache in so großem Kreis fruchtbar sein? Aber es ging wohl allen wie dem jungen Studenten, der, als er es erlebt hatte, wie Arbeiter und Unternehmer, Wissenschafter und Praktiker ihre Gegensätze oft in aller Schärfe austrugen und doch eins waren in ihrem Glauben, sagte: „Ich werde immer weniger skeptisch.“ Nahezu drei Tage — und manchmal in kleinen Gruppen bis tief in die Nacht hinein — berieten die Arbeitsgruppen. Ihren ' Niederschlag fanden die Aussprachen und Beratungen in vier Entschließungen.

Das Ergebnis

Den Arbeitstagen folgte am Sonntag das große öffentliche Bekenntnis. Am Vormittag strömten Zehntausende zu den Gottesdiensten. Für den Nachmittag war die Hauptfeier im Stadion angesetzt. Es war ein unvergeßlicher Eindruck, der sich bot. Uber dem Eingang dröhnte das Geläut der Glocken, und dann sah man im weiten Oval, das aus den Trümmern der Stadt errichtet ist, Kopf an Kopf gereiht, mehr als 150.000 Menschen. Menschen auf Trümmern — das Sinnbild unserer Zeit. Aber über den Menschenmassen ragte ein Kreuz gegen den Himmel.

Hier wurde das Ergebnis der Beratungen, die Entschließungen der Arbeitsgruppen, verlesen. „Die Freiheit des Menschen ist in Gefahr“, so begann die erste Resolution. „Die Not, unter der wir leiden, ist die Vermassung. Gott aber will den Menschen, der in Freiheit und Verantwortung vor ihm lebt. Uns ist aufgegeben, für diese Freiheit einzutreten.“ Und dann erhob sie ganz praktische

Forderungen an die politische und wirtschaftliche Führung: die Schaffung von Arbeitsmörrlichkeiten, den Bau menschenwürdiger Wohnungen, ein gerechtes Stenerwesen und Maßhalten in der Preisbildung.

Unternehmer und Arbeiter wurden aufgefordert zu wirklicher Partnerschaft bei den Bemühungen um die Mitbestimmung, durch die der Arbeiter gerechten Anteil an Ertrag und Verantwortung bekäme. Die Resolution schloß mit der Ermahnung an die großen Wirtschaftsverbände, Frieden zu halten, selbst wenn sie glaubten, vor unüberwindlichen Meinungsverschiedenheiten zu stehen, und forderte die evangelischen Christen auf, sich nicht der politischen Verantwortung für den Nächsten zu entziehen.

„Gottes Barmherzigkeit verpflichtet uns, den Heimatlosen eine Heimat zu geben“, hieß es in der zweiten Entschließung. Die Regierungen sollten die Massenlager beseitigen und frühere Wehrmachtlager freigeben, damit auf ihnen Flüchtlingsbetriebe errichtet werden können. Die evangelischen Gemeinden wurden aufgefordert, sich vermehrt für Siedlungen einzusetzen, und alle evangelischen Christen wurden ermahnt, auf Rache und Vergeltung zu verzichten.

Die dritte Entschließung befaßte sich mit dem Familienproblem. Sie forderte vom Staat den Vorrang des sozialen Wohnungsbaues und trat' gegen Sonntagsarbeit und Überstunden ein und für eine Verbesserung des Arbeitsschutzes der arbeitenden Frau. Nachbarschaftshilfe, freiwilliges Jugendaufbauwerk, Vermehrung der Kindergärten sowie Ehe-und Familienberatung sind Aufgaben, mit denen sich jede Kirchengemeinde beschäftigen muß. Sich an den einzelnen wendend, betonte die Entschließung die Verantwortlichkeit des Christen in seinem Wirkungskieis, vornehmlich in seiner eigenen Familie.

„Glaubt an den Retter“, war die vierte Entschließung überschrieben. Die Entschließung forderte von jedem einzelnen, sein Leben in Ehe und Familie, in Schule und Studium, am Arbeitsplatz und in der Politik unter den Anspruch Jesu Christi zu stellen. Sie bat, kein Ärgernis in der persönlichen Lebensführung zu geben, damit nicht durch das Leben der Christen die Botschaft der Kirche unglaubwürdig werde.

Der Kirchentag 'war keine Demonstration, trotz der Massen, die er zusammenführte. Es lag ihm auch fern, als Propaganda für die Kirche zu wirken. Er hat vom Wort Gottes aus Stellung genommen zu den brennenden Nöten und Fragen der Gegenwart.

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