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Revision des deutschen Geschichtsbildes

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Weithin bekannt als Verfasser sehr wertvoller Synthesen auf dem Gebiete der neuesten Geschichte, die unter den Titeln „Die Idee des Nationalismus“, „Propheten ihrer Völker“ und „Das zwanzigste Jahrhundert“ auch deutsch erschienen sind, Autor eines bisher noch nicht übertragenen Werks über den Panslawismus ist der Professor am City College von. New York, Hans Kohn, stets bestrebt gewesen, in den Vereinigten Staaten die Kenntnis geistiger, zumal politisch wirksamer Strömungen Mitteleuropas zu verbreiten. Er hat sich dabei durch seine Sachlichkeit und Unbefangenheit ausgezeichnet, die ihn beide nicht hinderten, ungeachtet der bei ihm gegebenen Voraussetzungen zum Ressentiment gegenüber der jüngsten deutschen Vergangenheit für deren Verständnis zu werben und entgegen blinder Gehässigkeit auf alle positiven Tatsachen hinzuweisen, die bei der gebildeten Schicht Amerikas als Anzeichen deutscher Umkehr zur Demokratie betrachtet werden können. Noch mehr, er begegnet mit viel Einfühlung den konservativen Tendenzen, und er hütet sich davor, Demokratie — oder sagen wir lieber von Willkür freie Gesetzlichkeit — mit umstürzlerischem Radikalismus gleichzusetzen.

Das neueste Buch Hans Kohns erfüllt eine wichtige Aufgabe. Es sammelt, von Herbert H. R o w e n vortrefflich ins Englische übersetzt, gehaltvolle Aufsätze deutscher Historiker, und es erbringt damit den Nachweis, daß hervorragende Geschichtsforscher' deutscher Sprache sich von der machtpolitischen, den Krieg verherrlichenden, nationalistisch-imperialistischen Hypnose losgemacht haben, die während zweier Generationen, im letzten Drittel des neunzehnten und im ersten des zwanzigsten Jahrhunderts, die Schilderer der Vergangenheit umgarnt hatte und die dann in den blutigen Rausch der zwölf Jahre des Dritten Reiches mündete. Unter den Autoren, die, zehn an der Zahl, zu Zeugen aufgerufen weiden, finden wir den kürzlich zweiundneunzigjährig verstorbenen ehrwürdigen Nestor der deutschen Geschichtsforschung, Friedrich M e i n e c k e, mehrere Angehörige der heute auf der Schaffenshöhe wirkenden Generation der Sechzigjährigen und Fünfzigjährigen — den führenden katholischen Historiker Franz Schnabel, Ludwig Dehio, Karl Buch heim, Hans H e r z f e 1 d, Johann Albrecht v. Rantzau, Hajo H o 1 b o r n, neben dem übei siebzigjährigen Soziologen Alfred v. Martin und zweien aus der jungen Generation, Ellinor v. Puttkamer und dem Schweizer Walther H o f e r, mit vierunddreißig Jahren der Benjamin in diesem illustren Kreise.

Allen hier vereinten Aeußerungen ist gemeinsam, daß sie für eine humane, europäische, christliche, die Rechte des Individuums achtende Auffassung der Gemeinschaft und ihrer Geschichte eintreten. Sie knüpfen einerseits an Hans Delbrück und Max Lehmann an, darüber hinaus an die ältere liberale westwärts blickende Geschichtsschreibung der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, anderseits an die katholische, föderalistische der Onno Klopp und Janssen, der Constantin F r a n t z und Julius F i c k e r. Sie beharren im scharfen Gegensatz zu den T r e i t s c h k e und S y b e 1, Erich Mareks und Spengler, der eigentlichen Alldeutschen ganz zu geschweigen, die in unserer Gegenwart bereits wieder den Griffel Klios zu führen trachten, wobei sie an Neupreußen nach Art der S c h o e p s und S e r o p h i m Sekundanten finden. Kohns Sammelwerk ist um Auseinandersetzungen mit dem preußischen Militarismus und mit Bismarck zentriert. Mehrere Aufsätze beschäftigen sich mit den sittlichen Kriterien des Geschichtsschreibers, mit der Vergötzung des Staats und, sehr dankenswert, mit einer neuen Schau auf die deutsch-polnischen Beziehungen. Den Band beschließt eine in dem, was sie bringt, mustergültige kleine Bibliographie.

Wir hätten gewünscht, daß an Themen auch das Verhältnis zu Oesterreich und zu Frankreich berücksichtigt worden wäre. Gerade auf diesen Sektoren hat sich in Deutschland ein erfreulicher Umschwung vollzogen, der mit den Leitmotiven om gallischen Erbfeind und vom antinationalen, kulturell minderwertigen Donauphäaken aufräumt. Unter den Autoren, deren entscheidend bedeutsame Beiträge zu verwerten gewesen wären, vermissen v.ir den tragisch und vorzeitig entrissenen besten Kenner der Hitler-Zeit, Hermann Mau, den führenden jungen österreichischen Historiker Friedrich Heer und zwei Verfasser, die vielleicht nicht als Fachhistoriker anzusprechen, doch unbedingt zu nennen sind: den Verfasser der „Böhmischen Tragödie“, Münch, und den des „SS-Staats“, Eugen K o g o n.

Zum glänzenden Einleitungskapitel, das Hans Kohn beigesteuert hat, sei ergänzend bemerkt, daß man dem Schisma zwischen der herrschenden deutschen Geschichtsauffassung vor 1945 und dem westlichen bzw. südlichen Geschichtsempfinden nicht voll gerecht werden kann, ohne dabei, wenigstens flüchtig, auf die tieferen Ursachen derartiger Auseinanderentwicklung hinzuweisen: die Fortdauer des nordischen Blutprinzips und des agrarfeudalen Leitbilds bei den Deutschen gegenüber dem Amts- und Bildungsgrundsatz und der Vorherrschaft des mobilen Kapitals bei Angelsachsen und romanischen Nationen. Ueber diese durch eine viele Jahrhunderte dauernde Entwicklung fest eingewurzelten Tatsachen, die bis an die Schwelle unserer Tage auch institutionell, rechtlich und jedenfalls in den gesellschaftlichen Anschauungen verankert waren, kommt man weder durch empörtes Dozieren noch durch bloße schmeichelnde Zuspräche hinweg. Es ist nicht ohne Grund, daß in deutsch redenden Gebieten, die rassisch anders aufgebaut sind als der Kern des Altreiches und wo lateinische — Schweiz — und slawische — Oesterreich —, wo keltische Traditionen fortwirken — in der Eidgenossenschaft und in Oesterreich —, die Geschichtsschreibung großen Stils nicht vom Kultus der Macht, des Krieges und des reinen Nationalismus geprägt ist. Daß sich ähnliches in Deutschland selbst vorab in den keltisch und romanisch geprägten Rheinlanden, von Schwaben bis ins Kölnische, zeigt.

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