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Digital In Arbeit

Rotkäppchen per Maus-Klick

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Interaktives Gestalten von Märchen will die Kreativität von Kindern fördern. Den Ausgang der Geschichten müssen sie selbst am Computer erarbeiten.

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Interaktives Gestalten von Märchen will die Kreativität von Kindern fördern. Den Ausgang der Geschichten müssen sie selbst am Computer erarbeiten.

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Es war einmal ein dickes, vergilbtes Buch, aus dem Großmutter immer vorgelesen hatte und die Bilder der Geschichten schienen dabei aus dem Buch herauszuklettern und wirklich zu werden. Märchen und Abenteuergeschichten auf CD-BOM sehen naturgemäß anders aus und hören sich anders an.

Heute hüpft Botkäppchen leichtfüßig über die 3-D-animierte Bildschirmoberfläche und der böse Wolf wackelt zur Begrüßung auch mal mit den computergrafikdesignten Ohren. Eine Erzählerstimme liefert ihnen Grimmsche Weisen in medienge-recht-gekürzter Textfassung gleich mit. Vorsicht mit der Vorfreude auf elektronische Großmütter, die zeitraubendes Vorlesen ersparen wollen: Die höchst unterschiedliche Produktqualität der CD-ROMs, die seit weniger als zwei Jahren in Deutschland und Österreich im Handel erhältlich sind, läßt bei einigen von ihnen so manchen Märchenliebhaber über eine starre Aufbereitung bekannter Geschichten schaudern: Der Jäger spricht zu Botkäppchen im Dialekt, schön. Aber für annähernd menschenähnliche Agitationen fehlt mitunter die Speicherkapazität. Ein Beh-kitz erstarrt nach der immergleichen Bewegung zum toten Abziehbild. Die „Natur" (l'iere, Geräusche, Farben) ist auf ein Darstellungsminimum reduziert. Zeit zum Nachdenken über unheimliche Begebenheiten im Märchen bleibt kaum. Zu sehr verleitet der übergroße Systempfeil „Weiter" zum Fortsetzen des Programms.

Der Spielcharakter im Umgang mit dem Medium „Computer" drängt das simple Zuhören bei einer Erzählung in den Hintergrund. Eingebaute Suchbilder und kniffliges Bätseiraten fördern analytisches Denken. Die eigene Phantasie wird durch ästhetisch anspruchsvolles Grafikdesign zurückgeschraubt, erzähltechnische Mittel wie „Spannungsmoment" oder „linearer Handlungsverlauf" adaptieren die Software unter dem Hauptaspekt, die Neugierde der Kids am Systemriemen zu halten. Daß das Märchenbuch nicht 1:1 auf ein Computerprogramm übertragbar ist, haben die Verleger erkannt, Deshalb arbeiten sie künftig lieber mit Multimediaautoren zusammen, die in den Bereichen „TV" und „Computeranimation" Erfahrung mitbringen.

Eine durchaus interessante Intention, die Kreativität von Kindern nicht auszuschließen und an das Buch als Krzählquelle zu erinnern, verfolgt der erst Anfang 1995 gegründete Tivola-Verlag in Berlin. Wer „Schneewittchen und die sieben Hansel" mit dem Mausklick nicht richtig zu Ende bringen kann, will vielleicht noch einmal nachlesen. Wenn nicht, landet Schneewittchen im interaktiven Drei-Märchenpuzzle als lebenslange Haushaltsgehilfin beim bösen Wolf.

Auch eine Variante, „Gut" und „Böse" aufeinanderprallen zu lassen.

„Kinderspielgeschichten" und „Sachspielgeschichten" bei Tivola konzipiert mit hauseigenen Autoren -bieten Kurioses und Wissenswertes. Die Geschichten sind - wie auch in Sachbuchkinderbüchem - Transportmittel, mit einfachen Alltagssituationen umgehen zu lernen und zudem dreisprachig angelegt. In „Wellen, Wracks und Wassermärchen" erlernt man echte Seemannsknoten, aber auch, was es mit einer Bootsmannspfeife auf sich hat. Übrigens: Den „Mann im JVIond" gibt es wirklich, die Software schließt Aberglaube wie Schimpfwörter nicht aus. Einen bibliophilen Zugang zum interaktiven Märchen eröffnet der renommierte Ravensburger Verlag mit „Das Buch von Lulu" (nach Bomain Victor Pujebet). Der Text wird neben schmuckvollen Initialen und aufwendig animierten Illustrationen in Buchform als Großbild präsentiert. Dieldee „Buch" hinterläßt sowohl im Erzählgang wie als erwerbbarer Gegenstand zum Angreifen etwas Geheimnisvolles.

Kein Geheimnis, aber dafür als interaktiver Englischsprachtrainer effektvoll aufbereitet, ist die Horrorgeschichten-CD-Serie von Thomas Bre-zina (CD und Buch im Hpt-Verlag). „Alice im Wunderland" weicht „Alice in Horrorland". In der für lernzwecke zerhackten Basisgeschichte kommt man in Sachen „Horror" und „Voodoo"-Zauber gleich zur Sache: Eine Tarantel krabbelt zur Lernerleichterung über ein schreck verzerrtes Jungangesicht, Ende. Ein Sargdeckel klapptauf und zu. „Coffin" leicht gelernt. Kaffee sollte dann bereit stehen, wenn der spannende Kriminalfall zum wiederholten Male nach Auflösung giert. Zufriedenstellende Lernmethode: Native Speaker und inkludierte Tonaufnahme via computer-anschließbares Mikrophon zum Vergleichen: Wer repetiert heute am besten auf englisch?-Baum für Zwischenrufe begrenzt.

Zwischen 400 und 800 Schilling muß man für die CD-ROMs berappen. Aufwendige Produktionskosten, wie Spezialeffekte oder Videoeinspielun-gen mit echten Schauspielern, heben den Verkaufspreis. Bezüglich der Funktion einer „Kinderspielgeschichte" als Lern- und Lebenshilfe im Alltag kann nichts entgegnet werden, wenn sie nicht als einzige Quelle für „Lebenserfahrung" fungiert. Die Hinführung zum Medium „Computer" ist über die einfache Benutzbar-keit der CD-BOMs gegeben. Im Begreifen und An-greifen von Märchenfiguren behält das Buch den Vortritt. Die Phantasie will wie die Ratio gleichermaßen entwickelt werden.

Die Autorin ist freie Journalistin.

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