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Ruckkehr in die Alte Welt

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Der Österreicher, der nach mehrjährigem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten jetzt wieder europäischen Boden betritt, hat längst zuvor sich schon die Frage gestellt: Welche Veränderungen werde ich in Europa, in der Heimat vorfinden? Ich sah hinter dem Stacheldraht, der mich Ankömmling noch umgab, die Freiheit auf mich warten. Was für eine Art von Freiheit würde es sein und was würde das neue Leben von dem verwirklichen, das man in harten Jahren ersehnt und erträumt hatte? Was würde wahr sein von den Schilderungen amerikanischer Zeitungen, die Europa als ein'Trümmerfeld nicht nur materieller, sondern auch moralischer Zerstörung hinstellten?

Der erste Eindruck war ja Wohl bedrückend. Der Hafen vor! Cherbourg und auch die Stadt wiesen noch immer völlig unvernarbt die Wunden des Krieges. Und nach mehr als einem vollen Jahr war von einem Aufbau nirgends etwas zu sehen. Würde es so weitergehen? Wir waren in einem Durchgangslager untergebracht. Es unterstand deutscher Verwaltung — man merkte es sofort. Die Kompanieschreiber trugen weiße Streifen um die Mützen, die Bataillonsschreiber gelbe und die Lagerführung rote. Armbinden trugen Aufschriften wie: „Lagerpolizei“, „Ordnungsdienst“, „Polizeichef“, „Kompanieführer“ usw. Alles war klassifiziert und in Kasten eingeteilt. Ja, da war er wieder, der alte Geist, den wir schon fast vergessen hatten. An jeder Ecke prangte irgendein großes Schild, das uns das Wort „verboten“ ins Gesicht schleuderte. Da hieß es: „Nicht rauchen!“, „Vom Gras wegbleiben!“, „Kein Papier wegwerfen!“ und so fort, ganz wieder wie vor drei Jahren. „Verboten“ — es gibt kein bezeichnenderes Wort — war das Stichwort des Polizeistaates, der damals in jenen furchtbaren Märztagen Österreich verschlungen hatte. Überallhin, bis auf die einsamsten Waldwege hatten uns seine Verbotsanschläge und Strafandrohungen verfolgt. Alles war reglementiert, selbst die Natur sozusagen portionenweise zugewiesen. So war es gewesen, und nun in diesem Lager starrte uns diese Vergangenheit wieder an, uns, die wir aus Amerika kamen; wir waren dort selbst als Gefangene freiere Menschen gewesen, als damals in der Zeit der Verbote, in der die Menschen nur hinter geschlossenen Türen zu reden wagten.

Der Abend im Durchgangslager brachte dann die erste deutsche Rundfunksendung nach so langer Zeit: Endlich würden wir nun die neuen Schlager und Lieder hören. Das Neueste aber war vier Jahre alt. Man hätte glauben können, daß sich auch auf Wort und Lied eine graue Staubschicht gelegt habe, herübergeweht aus Trümmern ...

Nun sind wir daheim und sind wieder Zivilisten geworden. So manche von uns, die wir aus der Neuen Welt in die Alte zurückkehrten, haben schon in den Alltag zurückgefunden, aber vielen, die wir dort drüben auf eine so ganz anders geartete Weise zu leben und die Stellung des Menschen im Staate und den Staat selbst aufzufassen gelernt haben, scheint es, als ob diese Alte Welt wirklich recht alt geworden wäre. Der Europäer des zwanzigsten Jahrhunderts kann es noch immer nicht begreifen, daß ein jeder von uns selbst ein Teil des Staates ist; daß die Regierung eine von uns allen selbst eingesetzte Institution ist, deren Aufgabe einzig und allein darin besteht, ein reibungsloses Zusammenleben der Menschen zu gewährleisten und für die Wohlfahrt möglichst vieler ihrer Bürger und nicht bloß dieser oder jener Gattung oder Partei zu sorgen.

Doch es gibt für den Rückkehrer aus Amerika auch erfreuliche Eindrücke. Alles spricht von Demokratie. Keine Tageszeitung in Österreich und soweit ich höre, auch in Deutschland, die nicht in ihrem Namen oder Untertitel die Bezeichnung „demokratisch“ hätte oder mindestens auf jeder Seite dreimal diese Gesinnung bekennen würde. Zu gleicher Zeit hört man so viele Verwünschungen gegen Faschisten,daß man sich zu wundern beginnt, wo bei so viel demokratischer Orthodoxie im Lande überhaupt noch Platz für nazistische Häretiker geblieben wäre. Diese demokratische Gesinnung gibt doch sicher zu Erwartungen Anlaß. Es sei hier ein “Wort zu dem Verhältnis des Staatsbürgers zu Parlament und Gesetzgebung gesagt. Wenn der Amerikaner ein öffentliches Interesse am Herzen hat, so schreibt er seinem Abgeordneten. Selbst wir Gefangenen fanden eine Möglichkeit, unsere Klagen vor die Öffentlichkeit und schließlich vor den Kongreß zu bringen. Bei uns hebt das Listenwahlrecht das persönliche Verhältnis zwischen Wähler und Abgeordneten auf. Wer gewählt wird, hat durch die Art der Einreihung in die Liste eine Parteiinstanz, aber nicht der Wähler entschieden. Liegt in diesem, namentlich in den Städten und Industrieorten, merklichen Mangel an persönlicher, durch die beste Parteiorganisation nicht durchaus zu ersetzenden Fühlung ein Grund für die mißtrauische Zurückhaltung namentlich der jüngeren Generation gegenüber der Politik überhaupt?

Am stärksten drängt sich dem Österreicher, der Amerika mit klarem Bedacht erlebt hat, der Gedanke auf, welch ein Konglomerat der Kleinstaaterei doch dieses Europa ist und daß blutige Kriege und nach deren Verheerungen endlich Friedensverhandlungen und neue Unfriedensstiftungen aufgewendet werden, um dieses Konglomerat aufrechtzuhalten oder da und dort ein wenig umzumodeln. Zu gleicher Zeit sind die Vereinigten Staaten, die viel mehr bundesstaatliche Einheiten und fast eben-soviele Nationen umfassen wie Europa, dank der Uberwindung jeglicher separatistischer Kleinstaaterei, dank des bewußten Bekenntnisses zur menschlichen Solidarität in rascher Entwicklung die führende Macht der Welt geworden. Das scheint Beispiel genug, um verstanden zu werden. Die „Vereinigten Stakten von Europa“ brauchten heute keine Utopie mehr zu sein. Gerade der Krieg hat wieder gezeigt, daß Menschen aller Sprachen sehr wohl reibungslos nebeneinander leben können, ja, aneinander Gefallen finden, wenn sie sich als Mensch zu Mensch gegenübertreten. Ich habe in Amerika während dreier Kriegssaisonen in der Metropolitan Opera deutsch gesungene Wagneropern gehört, ebenso wie die Werke französischer und italienischer Meister. Es ist an der Zeit, daß auch wir Europäer großzügig denken lernen, wenn nicht engstirniger Nationalismus und Blindheit gegenüber überwältigender Tatsachen in der Tat Spenglers düstere Prognose für Europa zur Wahrheit machen sollen. Heute, da die Entwicklung der Verkehrsmittel tausende Kilometer in nichts auflöst, sind die Menschen so nahe aneinander gerückt, daß sie an neue Formen des Zusammenlebens denken müssen. Aber heute gleicht Europa einem Altersheim, in dem sich Greise um die Bank an der Sonne streiten, während keiner Kraft und Geist genug aufbringt, für eine neue Bank zu sorgen.

Ich weiß, daß sind die Gedanken und Sorgen eines Laien und die Herren in den Staatskanzleien, die jetzt den Weltfrieden befürsorgen, haben zerschmetternde Argumente gegen Rebellen, die vermeinen, die . alte Ordnung könne durch eine neue, bessere ersetzt werden. Aber ich weiß auch, daß viele Menschen die gleiche rebellische Uberzeugung im Herzen tragen.

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