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Ruckwanderung der Armenier

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Winter 1914/15. Durch eines der unwirtlichsten Gebirge der Erde zieht eine endlose Kolonne — Männer, Frauen und Kinder —, ein Volk auf der Wanderschaft. Todesmarsch aus den armenischen Bergen nach der mesopotamischen Ebene oder ans Schwarze Meer. Nur ein kleines Häuflein hat dieses Ziel erreicht.

Die Geschichte Armeniens erinnert an jene Mazedoniens. Als Sultan Sdim 1514 Armenien eroberte, fiel die Provinz Irwan ah Persien. Mit dem Vordringen der Russen kam ein Teil der Armmier — 1828 das Gebiet von Eriwan, 1878 Kars und Batum — unter russische Herrschaft. So war das armenische Volk auf drei Staaten aufgeteilt, die Tragik seines Schicksals erfüllte sich aber in der Türkei. Das regsam und handelstüchtigc christliche Volk erlitt in jahrhundertelangem Kleinkrieg mit kriegerisdien und fanatisch andersgläubigen Stämmen schwerste Verluste. Es brachen über die Unglücklichen wiederholt furchtbare Massakers herein. Der Artikel 61 des Berliner Kongresses sollte Abhilfe schaffen, wurde aber niemals ausgeführt. Trotz Interventionen der Großmächte gingen die Gemetzel weiter. Von 1894 bis 1896 wurden über hunderttausend Armenier ermordet, 1500 Städte und Dörfer geplündert. 1200 Armenier wurden am Weihnachtsfest 1895 im Dom zu Urmia lebend verbrannt. Der Weltkrieg brachte neue Schrecken: auf eine Million wird die Zahl der Opfer allein für diesen Zeitraum geschätzt. Der Vertrag von Sevres stipulierte wohl 1920 die Errichtung eines Großarmenien, das sich militärisch aber nicht zu halten vermochte. 1918 hatte die Türkei namhafte Teile des Landes mit Kars und Batum von den Russen wiedergewonnen. Der Rest von Russisch-Armenien wurde 1921 eine autonome Sowjetrepublik.

Nun hat, wie „Economist“ berichtet, eine von der Sowjetunion begonnene Aktion, bereits zu einer erheblichen Rückwanderung von Armeniern geführt. Mehr als die Hälfte der außerhalb des geschlossenen Sprachgebietes Wohnenden hat, wie es heißt, sich bereits gemeldet. Ein großer Treck hat eingesetzt. Von einer Gesamtzahl von drei Millionen Armeniern leben etwas über zwei Millionen bereits in der UdSSR. Beiläu* 420.00C befinden sich in den Ländern Mittleren Ostens, hievon 170.000 in Syrien und im Libanon, 120.000 in der

Türkei, 80.000 in- Persien und 35.000 in Ägypten. Sie pflegen in der Diaspora gute Gemeinschaft und beharren bei ihrer Sprache und nationalen Einheit. So war es nicht schwer, in diesen Minoritäten den Wunsch nach einem gemeinsamen großen Heim zu erwecken. In allen Städten des Mittleren Ostens befinden sich Meldebüros dieser großzügigen Aktion. Die Rückwanderer erhalten die russische Staatsbürgerschaft und ein Geschenk von 30.000 Rubel zur Erbauung einer Heimstätte. Die Zahl der Einschreibungen ist im Wachsen. Aus ?ersien ha“ben sich 60.000 gemeldet, von denen 12.000 bereits rückgewandert sind. Über 20.000, meist aus dem Libanon, sind bis Ende 1946 über den Hafen von Beirut abgereist. Mehr als 50.000 haben insgesamt Sowjetarmenien erreicht, bevor der Winter die Transporte unterbrach. Meist handelt e$ sich um mittellose Elemente; die sozial bessergestellten Schichten zeigen aber keine Neigung zur Auswanderung. Der Patriarch der armenischkatholischen Kirche hat gegen die Aktion Stellung genommen, in der Voraussicht, daß die Sowjets die Trennung vom Heiligen Stuhle verlangen würden. Den Armeniern wird der Abschied durch die zunehmende Fremdenfeindlichkeit in den arabischen Ländern leichter “gemacht. Die Abwanderung dieser geschickten und arbeitsgewohnten Elemente wird aber, wie das englische Blatt mit Recht sagt, einen schweren Schaden für die bisherigen Gastländer bedeuten.

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