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RÜCKBLICK AUF EINEN ABSCHIED

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Es ist Post gekommen aus Athen. Während ich die Karte lese— sie zeigt eine Luftaufnahme der Akropolis —, fliegen Raben am Fenster vorbei und hocken jenseits der Straße auf den kahlen Bäumen auf. Es ist schon ein wenig Schnee liegen geblieben. Ich rechne nach: Genau ein Vierteljahr ist es her, seit wir Abschied nahmen von Griechenland.

Wir waren, nach einem Monat Inseldasein, am Tag vorher wieder nach Athen zurückgekommen und hatten die Stadt sehr verändert gefunden. Ihre Straßen, Plätze, Geschäfte, Häuser und Menschen unterschieden sich in nichts mehr von denen anderer Städte. Wir waren nicht mehr dieselben wie damals, als wir, noch ganz in unserer Welt zu Hause, gleichsam von unserem Wiener Fenster aus, zum erstenmal die Neue Welt erblickten und uns nicht fassen konnten vor Verwunderung. Jetzt waren wir blind geworden für das Einmalige dieser Stadt.

Wir hatten die Veränderung schon in Piräus wahrgenommen, als wir, von Ägina kommend, an den noch immer — oder schon wieder? — vor Anker liegenden Riesenschiffen vorbei, in den Hafen einliefen und so ungerührt deren mythologische Namen lasen, als hießen sie Hinz, Kunz und Mayer. Hatten wir beim erstenmal in der Haltestelle der elektrischen Bahn vor Schauen vergessen, uns rechtzeitig an die Wagentür zu stellen und dann zurückbleiben und auf den nächsten Zug warten müssen, weil sich die Tür wieder schloß, noch ehe wir eingestiegen waren, wußten wir diesmal Bescheid. Unsere Erfahrenheit machte uns stolz und traurig zugleich. Wir blickten auf jenen Zustand wie auf unsere Kindheit zurück. Wir hatten das Hexeneinmaleins der Fremde kennengelernt: Einmal ist alles und zweimal nichts. So war die Fahrt nach Athen auch kein erwartungsvoll-abenteuerliches Vordringen mehr in Unbekanntes, Geheimnisvolles, sondern nur noch der unvermeidbare Transport von Menschen mit Gepäck. Ich dachte dabei — typisch für den aus dem Paradies Vertriebenen —, zum erstenmal seit langem, wieder an Wien zurück und an die Fremden, die dort zur selben Zeit, mit Photo- und Filmapparaten bewaffnet, durch die Straßen der Inneren Stadt zogen, mit dem unschuldigen Ausdruck im Gesicht, wie er Kindern und Neugierigen eignet, denen allein gegeben ist, Strapazen und Geldeinbußen hinzunehmen, die so eine Reise mit sich bringt, aber auch, im Altgewohnten das Neue zu erblicken.

Als wir am Ommndaplatz wieder ausstiegen und aus dem Schatten des U-Bahn-Schachtes in die pralle Sonne hinaustraten, war es vielleicht noch heißer, als es bei unserer Ankunft damals gewesen war. Dennoch spürten wir nichts mehr von jener Venushitze, die uns vier Wochen vorher so deutlich von den elf Breitengraden herzurühren schien, um die wir dem Äquator nähergekommen waren. Unverändert grüßte vom Ende der Athinastraße die Akropolis herein. Doch sie war nur noch eine Burg wie jede andere. Wieder stiegen wir im Schwärm hinauf, verweilten einen Augenblick an dem eisernen Geländer über dem Odeum des Herodes Attikos, von wo wir einen Blick in den Zuschauerraum hinab und über die Stadt warfen, und gelangten auch wieder, zwischen den Wachttürmen des Flavius Septimus Marzellinus das Beulesche Tor durchschreitend, zu den Propyläen hinauf. Dann schauten wir, dm Schatten der Jahrtausende an die Säulen gelehnt, hinaus auf den Platz, der, von Steintrümmern übersät, in der Sonne glühte.

Und da, im Angesicht des Parthenon, fühlten wir plötzlich, daß wir doch nicht ärmer, sondern reicher geworden waren. Auch hier sahen wir jetzt einen anderen Tempel als damals, aber die Veränderungen, deren wir uns schauend bewußt wurden, waren anderer Art, als die in der Stadt wahrgenommenen. Während dort hinter dem Schleier, den der Nimbus der Fremde uns vor die Augen gezaubert und den die Zeit zerrissen hatte, aus der Hülle des Exotischen das Altbekannte zum Vorschein gekommen war, schien es, als habe derselbe Schleier gerade das Ungewöhnliche des echten Tempels vor uns verborgen gehalten. Wir standen, schauten, staunten: Wir hatten statt des wirklichen Tempels damals nur eine Nachahmung gesehen. Plötzlich waren „schön“' und „klassisch“ und die Phrase von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ keine Lügenworte mehr für uns. Wunderbar bestätigten Treppe, Säule und Giebel, die sich in wohltuender Unauf-dringlichkeit vor uns erhoben, ihre Wahrheit. Denn dies unterscheidet am gründlichsten Kopie und Original griechischer Kunst, daß jene durch die klassischen Formen imponieren möchte, wogegen diese, wie Schopenhauer es ausdrückt, den Willen gar nicht affiziert. Stifters Wort von der Schönheit, daß sie sich dem Blick verberge, das lang gekannte, begriffen wir neu. Die Zeit hatte das Geheimnis uns enthüllt, die Zeit, die es vor uns verborgen gehalten. So war sie also nicht nur Zerstörerdn? „Auch das Schöne muß sterben.“ Hatte Schiller recht, da es hier, noch in Trümmer geschlagen, so deutlich fortlebte? Hatte sich nicht „die gottgedachte Spur“ selbst in des Dichters Schädel noch erhalten? Lächelte nicht auch uns aus dem Totenkopf der Trümmerstätte Akropolis das Lächeln der Kunst entgegen?

Und als wir nachher vor dem Erecbtheion standen und an der Stelle der gebäliktragenden Heroinen nur einfache, menschlich liebe Frauen fanden, da tat ich in Gedanken jener Griechin Abbitte, die im Zug meine Nachbarin gewesen und mir durch das klassische Karyatidengesicht bei ihrer Kleinheit etwas lächerlich erschienen war. Wo hatte ich meine Augen gehabt? Jede dieser Karyatiden mit ihren zierlichen Gestalten konnte ich mir an der Stelle der lebenden Griechin denken, wie sie freudig-ruhig plaudernd mir von Deutschland erzählte, wo sie in einer Aluminiumfabrik ihr Geld verdient. So einfach ist die Kunst der Alten, daß sie am schwersten zu begreifen.

Auf dem Weg zurück ins Hotel — wir gingen diesmal nicht wieder ins Museum — waren wir wegen unserer baldigen Heimreise elegisch gestimmt. Nun erschien uns alles, was wir vor einem Monat hier erlebt hatten, wie verklärt. Selbst über mein damaliges Mißgeschick mit dem Taxi Chauffeur, der uns von der Akropolis vor das Hotel gefahren, uns dort verdächtig eilig ausgeladen, und mir, wie sich herausstellte, gleich um zwanzig Drachmen zu wenig herausgegeben hatte, lachten wir in der Erinnerung. Wir lachten auch, weil ich damals die Burg hatte mit Badeschuhen besteigen wollen, dann aber auf einmal umgekehrt und, trotz meiner wunden Füße, in Straßenschuhen wiedergekommen war, und alles nur, weil ein junger Mann im Vorübergehen „monsieur canibale“ gesungen haben sollte, wie ich behauptet und außer mir niemand bemerkt hatte. Ich getraute mich auch jetzt noch nicht, von der Erleichterung au sprechen, die ich fühlte, als wir damals an den zu beiden Seiten der Straße postierten Schuhputzern vorbeischrlitten, die nun keinen Grund mehr hatten, mich zu verachten. Und noch immer weiß ich nicht, ob mein Verhalten auf Feigheit beruhte oder auf meinem Respekt vor fremden Sitten, auf meinem demokratischen Empfinden oder nur auf meinem Sinn für Gleichgewicht.

Andern Tags träumten wir, schon seit fünf Uhr früh nach dem Norden unterwegs, unsere Erinnerungen weiter. Ein paarmal noch sahen wir das Meer. Wann würden wir es wiedersehen? Auf der Uberfahrt haitten wir uns noch einmal an den Wellen saittgesehen, deren Kämme der Wind zerriß und in Nebel zersprühte. Ganze Straßen von ziehenden Medusen, diesen Sommersprossen des Meeres, die gelb durch die blaue Haut schimmerten, waren wir begegnet. Was hält diese Tiere, die pflanzenhaft ohne Augen sind, zusammen? Warum verteilen sie sich nicht über das Meer? Wissen sie voneinander? In primitiver Weise wenigstens? Katastrophe, daß man nichts weiß! Doderer hat recht, es zu sagen. Früher dachte ich immer, alles sei bekannt und in Büchern aufgeschrieben. Jetzt möchte ich schwören, daß niemand es weiß, daß es keine Medusen-Topographie des ägäischen Meeres gibt, und daß diese Entscheidung, die die Weiten der Meere füllt, unkontrolliert stattfindet. Was für krauses Zeug hatten wir nicht alles gedacht, als wir so im Lärm von Wind und Wellen auf Deck unter dem hellen Vormittagshimmel saßen, den der Rauch aus dem Schiffsschomstein beschmutzte, während er dem stumpfblauen Meer nichts anhaben konnte. War uns, inmitten der weithin alles ausfüllenden, aufgewühlten Wassermassen, nicht der Gedanke, daß diese Welt absurd sein könnte, mit einemmal selbst ganz absurd erschienen?

Dann und wann öffnen wir die Augen: Eine kleine Stadt, vor uns in einem Talkessel. Dunkle, schlanke Zypressen, in die Landschaft ringsum eingestreut, erinnern an nachdenklich verweilende Spaziergänger. Wahrscheinlich rührt von dieser Ähnlichkeit die Traurigkeit der Gegend her. Welcher Expressionist war es doch, der die Pappel „enteinheitend“ genannt hat? Das Wort paßt noch besser auf die Zypresse. Wie durch den Menschen die ganze Natur, so bekommt die Landschaft durch sie einen Klaps.

Diesmal war der Olymp durch keine Wolke verdeckt. Der Sitz der Götter, auf dem der Blick ungehindert spazierengehen konnte, war darum auch nur ein Berg. Keiner der mitfahrenden Griechen kannte auch nur die Namen von Ossa und Pelion. Ich war auf Vermutungen angewiesen.

Als wir nachts an die Grenze kamen, schaute ich verschlafen durch das Autobusfenster zum Himimel hinauf. Kein Stern war zu sehen. Damals, ails wir in umgekehrter Richtung fuhren, war ich, beim Anblick des Orion, plötzlich erschrocken über die Tatsache, daß ich nun in Griechenland war, von wo alles, was ich bin und sein kann, seinen Ausgang genommen, angefangen von den Namen der Sterne.

Ich schrecke auf. Krächzend stieben die Raben wieder von den Bäumen. Wie lange starre ich schon das Bild der Akro-polis -auf der Postkarte an? Langsam fällt draußen ein letztes Blatt zur Erde. Schon sind die neuen Blätter wieder, fein zusammengerollt, im Baum. Es wird Gnade sein, sie wieder sich entrollen zu sehen.

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