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Rückkehr zur Stille

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Es gibt wenig Wahrnehmungen des Lebens von nur annähernd gleicher Widerwärtigkeit, wie sie der Lärm verursacht. Denn das Leben ist etwas Stilles und bedarf zu seiner höchsten Entfaltung kaum mehr, als ein paar guter Worte. Dennoch ist die Weltgeschichte eine Geschichte des Lärms, der sich seit der Rotte Korahs ununterbrochen steigert und am Ende sogar noch von den Antilärmveranstaltungen vermehrt wird. Er hat die Sinne des Menschen bereits bis zu einem Grad angegriffen, daß sie verkehrt reagieren. Was warnen soll, ärgert bloß. Das zu laute und zu oft wiederholte Hupensignal übertönt seinen eigentlichen Sinn, weil es die Nerven mißhandelt. Die Stille hingegen ängstigt, erinnert zu sehr an Tod und Grab. So weit ist es mit dem Ebenbilde Gottes gekommen, daß es seine Existenz nur mehr im Rausche überdosierter Geräusche empfindet, die wenig mehr als die Hysterie ihrer Urheber beweisen. Aber die sie ertragen müssen, werden ebenso von Hysterie befallen.

Doch wollen wir den Verkehrslärm, die immerhin noch erträglichste aller Lärmgruppen, nicht an erster Stelle bekämpfen, obgleich auch seine Drosselung vorteilhaft wäre. An der Züricher Einfahrtsstraße las ich einst die weise Anordnung: „Hier wird nicht gehupt, sondern achtgegeben!“ Und siehe, es ging auch so und besser als mit hundert Boschhörnern. Die Verkehrsunfälle nahmen ab, desgleichen anscheinend aber auch das Vergnügen der Herrenfahrer, die nicht mehr hupen durften. Soll man Tausende für ein Auto ausgeben und dann die ärmeren Zeitgenossen nicht einmal ärgern dürfen?

Doch, wie gesagt, nicht der Verkehrslärm verbittert das Leben in dem Maße wie jener hundertstimmige Lärm, den der moderne zivilisierte (wenn auch kaum kultivierte) Mensch um sich verbreitet. Der eine stellt den Lautsprecher, auf höchste Stärke gedreht, ins Gartenfenster, damit ihn die Stille des Gartens nicht verwirrt und die Nachbarn zur Bewunderung des neuen Radioapparats Gelegenheit haben. Daß diese die teure Gartenwohnung ihrer ruhigen Lage wegen gemietet, interessiert ihn nicht weiter. Sollen die Fenster schließen, wenn sie nicht hören wollen! Womit das soziale Empfinden gewisser Zeitgenossen überzeugend manifestiert ist; des Tenors oder Trompeters, der bei offenen Fenstern übt; der über die Mondscheinsonate nie hinauskommenden Pianistin, die das gleiche tut; der im Obergeschoß tanzenden Gesellschaft, die uns zugleich mit unserer Lampe zucken macht; des Reisenden, der im Kupee das große Wort führt; des Besuches, der stundenlang von sich selber spricht, weil er sich selbst das einzige Thema ist, das ihn interessiert; des Besserverdieners, der uns so anzüglich seine Enthaltsamkeit schildert.

Das ist der eigentliche Lärm: die Selbstpropaganda, das Selbstlob, die wohlgefällige Spiegelung nach unten, der heimliche Trumpf über den Nächsten, durchsichtig als Teilnahme kaschiert; der rücksichtslose Anspruch des eigenen Ich, die Selbstüberschätzung und die danjit verbundene Unterschätzung des anderen. Heiter, solange der andere die Nerven hat, darüber zu lächeln, tragisch, weil er sie in dem ewig trommelnden Lärmterror verlieren muß und Schaden leidet an der Ruhe seiner Seele, an der ungestörten Ausübung seines Berufes und damit an seiner leiblichen Existenz. Denn der Lärm zittert nach, erschüttert das ruhigste Gemüt, kratzt die Sicherheit von den Wänden des Bewußtseins, macht vorschnell, unüberlegt, treibt zur Übereile, zersetzt die Selbstkontrolle und zerstört in der Folge Charakter, Willenskraft, Güte, also das Edle in uns. Der Vergleich der Lärmkurve mit der Kriminalitätskurve ergäbe interessante Überraschungen.

Aber es gibt näherliegende Vergleiche. Hör dir das Lachen der Menschen von heute an, ihre unverfälschteste Sprache, und ihre vom Lärm ausgehöhlte Seele wird dir grauenhaft offenbar. Es klingt dröhnend, kreischend, stoßend, barbarisch, ohne Melodie, ist ebenfalls nichts anderes mehr als Lärm. In meiner Kindheit hatte das Lachen der Menschen einen Herzton, klang weich, sonor nnd gütig. Damals hatten die Leute eine gesündere Seele. Heute haben sie nur mehr Angst. Vor der Zukunft, vor der Gegenwart und nicht zuletzt vor der Vergangenheit, denn ihr fühlen sie sich für ihren Niedergang verantwortlich. In der letzten noch nicht verbrannten Kammer ihres Herzens sitzt ihr winziges besseres Ich und spricht sein Mene- tekelupharsin. Aber es flüstert nur mehr und wird vom Lärm erschlagen.

Das wahrschein’ich einzige wirksame Mittel gegen den Lärm ist damit angedeutet: innerer Aufbau, Einsatz aller Kräfte in dem Bestreben, die technische Entwicklung der Menschheit seelisch aufzuholen. Humanistische und soziale Bildung, Intensivierung des geistigen Lebens. Eine Beethovensche Symphonie muß der Menschheit wieder bedeutender werden als eine Alarmsirene, eine Weihnachtskrippe nötiger als eine Atombombe. Nur dann wird der äußere Lärm vor der inneren Musik verstummen, als deren fratzenhafter Ersatz er fungiert. Das Lächeln wird wieder herzlich, das Herz wieder ruhig und die Ruhe wieder gesichert werden. Nur dann wird das Leben wieder still und frei und zu seiner höchsten Entfaltung bloß einiger guter Worte bedürfen. Anderenfalls geraten wir unter das Tier und heulen uns zu Tode, einer der Peiniger des anderen. Wie sagt Nestroy: Wenn zwei Wölfe einander in der Nacht begegnen, hat keiner eine Angst davor, daß der andere ein Wolf ist; nur die Menschen sind einander verdächtig.

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