6600765-1953_37_05.jpg
Digital In Arbeit

„Ruhe ist eine seelische Gemeinheit 1“

Werbung
Werbung
Werbung

I.

Der junge, eben aus dem Krimkrieg heimgekehrte Literat, der diese Worte 1857 seiner um einige Jahre älteren Verwandten, der Gräfin A. Tolstoj, schrieb, lebte in diesen Tagen in der Mittagshöhe eines Jahrhunderts, das als eines der unruhigsten, bewegungsreichsten und betriebsamsten in die Geschichte eingegangen ist. Und doch war gerade diese Zeit vielleicht jene, in der sich die Menschen am dichtesten in sich selbst eingesponnen hatten, jene, in der sie ihren festesten und sichersten Frieden mit „der Welt“ gemacht hatten. Die Uhr des Fortschritts, der Bewegung, war durch Hegel und Darwin, durch den frühen Spencer und Stuart Mill so verläßlich konstruiert und durch die bürgerlich-hochliberale Intelligenz so ambitioniert in Gang gehalten, daß die Illusion nahezu vollständig war: Die Gesetze — nicht etwa „das“ alte, vergessene Gesetz — hatten die endgültige Herrschaft über den Menschen angetreten. Sie thronten auf dem höchsten Richter- und Lehrstuhl, vor dem selbst der goldene Sessel der Theologie aller Konfessionen ein kleiner Hörerschemel geworden war. Ruhe: Ja, das war das vermeintliche Kraftzentrum wissender Aufgeklärtheit, vorausberechenbarer Daseinssicherheit, das jene unvorstellbaren extravertierten Energien speiste, aus denen heraus die großen Imperien erobert, die weltumspannenden Eisenbahnen geschaffen, die mikrokosmischen Expeditionen ausgerüstet wurdsn. Vergessen war in dieser großen Weltenuhr der gesetzmäßigen Dialektik, der hygienischen Sicherheiten, des mündelsicher vorgeplanten Lebenslaufs nur eines: die Unruhe. Wer jenen Teil des Uhrwerks entsetzt entdeckte, als er unverwendet neben dem bereits in Betrieb befindlichen Mechanismus übriggeblieben, da lag, lief Gefahr, als störender Narr angeschen su werden, zumal wenn er versuchte, dem bereits im Gang befindlichen Uhrwerk' die vergessene Feder einzuführen und es zu diesem Zwecke zum Stehen zu bringen. Wer wußte damals schon etwas von einem hageren häßlichen Theologen namens Kierkegaard, der zu Kopenhagen die kirchliche Ruhe störte, wer las schon die mit der kalten Verzweiflung des Vorauswissenden geschriebenen Romane des in der Provinz vergessenen Konsularbeamten Stendhal-Beyle, und vor allem: Wer wußte davon in St. Petersburg? Und man kann es sagen: diese innere Unruhe, deren Fehlen sich zu dieser Zeit nur gelegentlich an einem merkwürdigen blechernen Klappern des Uhrwerks bemerkbar machte, sie fand der Graf Tolstoj, unverkennbarer Sproß der fortschrittsgläubigen Hochadelsgesellschaft bis in seine spätesten Jahre und Stadien der sich verbrennenden Wandlungen, mit Schauder ... in seiner eigenen Brust.

II.

Das, was den Zeitgenossen mehr noch als uns für eine völlig unverständliche Torheit, für eine Mischung herrschaftlichen Nichtstuerspleens und krankhafter Rastlosigkeit erscheinen mochte, war nichts anderes als der unausweichliche, fordernde Zwang im Innern Tolstojs selbst, seine condition humaine, zu leben, sich selbst zu verwirklichen als Rechenschaft schuldendes Geschöpf, als in versehrender Totalität begriffenes Ebenbild des Einen und Lebendigen. Irgendwo lebt es in uns allen, die Sehnsucht nach einer Existenz, in der der König mit der richtigen Krone auf dem Kopf und Szepter in der Hand regiert, der Einsiedler mit dem Bart in der Wildnis lebt, der Heilige der Nächstenliebe mit den eigenen Lippen den Eiter aus den Schwären des Aussätzigen saugt. In Tolstoj war sie ein übermächtiges, ihn mit heiliger und prophetischer Unrast überfallendes Lebensprinzip geworden. Die Selbstverwirklichung jenes eigent-

lich Menschlichen war seinem Jahrhundert eine närrische Schimäre. Die Trennung von Leben und Werk schien völlig unvermeidlich. Der eine oder andere litt noch darunter, wie etwa der wegen seiner zarten Nerven nur zum Sanitätsdienst geeignete Hymniker des „starken“ Lebens: Nietzsche. Für die meisten anderen aber war es augenzwinkernd, achselzuckend zugegebene Wirklichkeit. „Die Dinge so zu betrachten, hieße sie allzu genau zu betrachten“ formulierte der Ahnherr dieser Generationen, der rai-sonneur Horatio, schon fast dreihundert Jahre zuvor im „Hamlet“. Tolstoj wurde — wenn man seinen Briefen und Tagebüchern, die die hier noch nicht zum Modewort gewordene Titulatur einer Beichte tragen, folgt, von diesem Auftrag, sich selbst zu verwirklichen, geradezu überfallen. Es ist ein landläufiger Irrtum, in seinem Leben einen Bruch anzunehmen, von dem an sich der kraftvolle naturalistische Schilderer und Roman-

cier in einen salbadernden Theoretiker und Traktätchenprediger verwandelt. Nichts davon stimmt. Tolstoj hat nie in seinen Werken gepredigt, sondern er hat, während er die „Auferstehung“ oder die Dialoge der „Macht der Finsternis“ schrieb, die Existenz eines predigenden Menschen als ein Aufgetragenes, zur Verwirklichung Drängendes gelebt. Wenn sich in seinen Werken Stellen finden, in denen er sein früheres Schaffen ver-

dammt, in denen er jede Zeile verflucht, die nicht allein der Belehrung und religiösen Erziehung diente, so steht er damit wohl. in seinem Jahrhundert, das vor dem perfekten ästhetischen Werk in Bewunderung stand, wenn selbst es der Schuft geschrieben oder geschaffen hatte. Aber er steht in jener großen Kette der Berufenen, die ihr Werk vernichtet sehen wollten, weil sie es nicht ganz mit ihrem ureigensten persönlichen Gefordertsein in Einklang zu bringen wußten, in jener Reihe der Vergil und Cervantes, Dante und Calderon, der Beichte Prospero-Shakespeares, des Vernichtungsauftrags Kafkas und Kleists, der religiösen Existenzanalyse des Dichters, wie sie erst jüngst wieder Julien Green formuliert hat. Tolstoj hat sein Schaffen mit jener Last und schmerzlichen Bürde verglichen, die den alten Propheten auferlegt war. Mit Fug und Recht könnte über allen seinen Werken, auch über jenen, die scheinbar rein naturalistische Romanliteratur sind, das geheimnisvolle Wort „Onus“ stehen, mit dem die Bücher der „kleinen Propheten“ ihre Bußrufe und Schreckgeschichte beginnen. Das Jahrhundert pflegte nach dem Gewissen oder gar dem Seelenheil des Künstlers nicht zu fragen. Für Tolstoj aber war die paulinische Frage nach dem Schaden der Secie auch dann noch im Vordergrund, als er mit seinen gewaltigen Romanerfolgen die Welt gewonnen

hatte. Ja, mehr noch, er blieb bei der persönlichen Seelenruhe des Mönchs, des Philosophen oder theologisierenden Epikuräers genau so wenig stehen, wie Hermann Hesse bei der Selbstherrlichkeit des Glasperlenspiels. In einer seiner erschütterndsten Altersnovellen stellt er dem „frommen“, von der ganzen Umgegend verehrten Staretz, dem weisen Betrachter und in den Weihrauchwolken eigener Religiosität atmenden Greis, die arme,

halbidiotische Magd gegenüber, bei der es „nicht einmal des Sonntags mit der Zeit für die Kirche ausgeht, weil ja die Wirtschaft besorgt werden muß“. Und er scheut sich nicht, die Trömmigkeit des religiösen Genießers mit vernichtendem Geißelhieb zu bedenken. Nur aus diesem von Jugend auf Aufgegebenen, Verhängten und Bejahten heraus ist die scheinbare Irrsinnstat des dreiund-achtzigjährigen Greises zu verstehen, jene Flucht aus der letzten Geborgenheit, die Stefan Zweig, der als Vertreter Oesterreichs 1928 in Moskau bei der Feier seines hun-hundertsten Geburtstag die Gedenkrede hielt, sinnvoll mit der letzten Entblößung des Hiob vergleicht, jener einsame Tod in der Haltestelle von Astopowo, indes das neue, das zwanzigste Jahrhundert in Gestalt der Reporter und Kameraleute die Nasen an den Scheiben plattdrückte, um dieses Wundertier sterben zu sehen. (Wenige Jahrzehnte wird es dauern, und man wird Geburten und Atombombentote in Großaufnahme photo-graphieren, weinende Witwen des Koreakrieges mit Taschentuch...)

III.

Oberflächlich aber wäre es, Tolstoj nur aus seinem persönlichsten Gefordertsein, seiner existentiellen Selbstverwirklichung deuten und würdigen zu wollen. Es kann nicht übersehen werden, daß er ein Russe war und daß die letzte Entfaltung dieses seines vorgenannten Auftrags nur in der antäusgleichen Berührung mit eben jener Erde möglich war, die von der Gemeinschaftssubstanz dieses Volkes nicht wegzudenken ist. Die Wechselwirkung zwischen seinen Romanen und den unaufhörlich neuen Kraftströmen des ihn umgebenden Volkes ist ein Grundphänomen, für das es kein annähernd paralleles Beispiel in irgendeiner anderen Literatur und schon gar nicht in diesem Jahrhundert gibt. Es beginnt mit den Kriegserzählungen, vor allem den aus einem Fronttagebuch entstandenen, für eine Frontzeitung, deren Entstehung nebenbei eine höfische Kamarilla verhinderte, gedachten Aufzeichnungen vom Kampf Jim Sewastopol. Jener begeistert aufgenommene Parolenruf des Offiziers „Hurra, jetzt geht es zum Sterben!“ wäre in jedem anderen Volk als eine blasphemisch-pathe-tische Ungeheuerlichkeit anzusehen, hier aber wird das Unbeschreibliche im wahrsten Sinn Ereignis. Ein solches Wort, ein solches Echo ist nur denkbar in einem Volk, das mit der Realität des leiblichen Auferstehungsglaubens Ernst gemacht hat, dem die Trennung von theoretischer Wahrheit und praktischem Leben unmöglich ist. Hier gilt die „istina“ (die rationelle Wahrheit) nichts, die „prawda“, die gelebte, die realisierte Wahrheit, die sich im Gemeinschaftssinn als Gerechtigkeit ausweist, alles. Und hier liegt die geheime Korrespondenz, die das Werk dieses radikalen Einzelgängers, dieses ebenbildlich und allein der absoluten, namenlosen, in der Beamtenkirche nicht zu fassenden Gottheit Gegenüberstehenden mit der nämlichen Masse seines Volkes hatte. Hier liegt das Geheimnis, daß die in der Nacht des Eisenbahnabteils gebeichtete Tragödie der „Kreutzersonate“ wahrhaft von den Dächern verkündet wird, daß jedes Schicksal und jede Figur.nicht nur die des ersten nicht mehr individualistischen Volkshelden Piaton Karatajew („Krieg und Frieden“) als Gleichnis verstanden, als ge-sellschaftsbeeinflussende Realität bejaht wird.

IV.

Es bleibt bei all dem für uns eine letzte Frage offen, die wir uns nicht verhehlen dürfen. Es steht außer Zweifel, daß Tolstoj außerhalb der Kirche stand, daß sein Christusglaube nur in ganz entfernter Weise mit jenem orthodoxen der grundlegenden Konzilien, ja selbst der Schrift in Einklang zu bringen ist, den wir ja mit unseren ostkirchlichen Brüdern gemein haben. Man kann sein philosophisches Weltbild, dessen neuplatonisch-pessimistischer Grundtendenz seine schwerwiegenden Irrtümer in der Frage der Geschlechtsliebe, des Eigentums, der Gewalt-losigkeit entstammen, nicht anders als irrgläubig beeeichnen. Und dennoch stoßen wir

hier an eine Grenze, die zu überschreiten uns mit den Wahrheitsdefinitionen der Scholastik unmöglich ist. Ein Widerspruch tut sich hier auf, den wir im Heute und Hier als ein Kreuz des Geistes tragen müssen: Selbstverwirklichung und Erfüllung eines eindeutig prophetischen Auftrags in einem entgöt-terten Jahrhundert, Beispiel und wahrhaftes „Zeugnis im Fleische“, nach dem wir gerade in jenen Jahren im eigenen Vaterhause, bei der Tafel der Abraham, Isaak und Jakob lange, lange suchen müssen, um dann erst die kleine heilige Therese oder den Kardinal Newman :;u finden. Zeugnis der existentiell verstandenen und gelebten Wahrheit in der Gestalt eir es eindeutigen Häretikers, in dem Mantel eiijier theologisch als solcher zu be-

weisenden Irrlehre? Wir haben angesichts dieses für uns heute noph unauflösbaren Widerspruchs zu schweigen und jenen seit Jahrhunderten verschütteten Wegen des Denkens und der Wahrheitsfindung nachzugehen, die uns nicht nur zum Menschen Leo Tolstoj, sondern auch zur innersten Substanz seines geistigen Anliegens einst die Brücke des theologischen Ost-West-Gesprächs geschaffen hatten. Und so stehen wir vor Tolstoj, Brüder und doch nicht Brüder, Beispiel eines Lebens der heiligen Unruhe, Mahnruf unsere eigene Ruhe im Herrn, die uns unverdient gnadenhaft verheißen ist, nicht mit dei Ruhe eines Besitzers zu verwechseln, und sei es auch die eines vermeintlichen Besitzers det meßbaren und begreifbaren Wahrheit.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung