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Russische Erzähler des 20. Jahrhunderts

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Epen werden rezitiert, Lieder gesungen, Dramen agiert, Erzählungen aber werden, wie man sich denken kann, erzählt. Sie sind „Novellen“ — hört, was sich zugetragen hat! Unsere Zeitung ist ein monströses Entwicklungsprodukt der Erzählung. Epen schildern das Ganze, die Erzählung aber setzt das Ganze bereits voraus und hängt ihm einen charakteristischen Vorfall an, der zugleich zeigen soll, worauf das Ganze hinausläuft. — Die neuere russische Erzählung kommt von Tschechow her, der wiederum seine entscheidende formale Anregung von Maupassant empfing. Darum stehen zu Anfang dieses Buches mit Recht zwei wunderschöne Erzählungen von Tschechow. Weiterhin hat das Buch zwei Einschnitte: einen zeitlichen, denn die Erzählungen nach 1917 haben bereits einen völlig anderen Lebenshintergrund als ihre Vorgänger; und einen räumlichen, denn die (hier ebenfalls vertretene) russische Emigration schreibt anders, fast möchte man sagen feiner, als die Sowjetschriftsteller. Vergleicht man die russische Literatur von 1850 bis 1900 mit der von-1900 bis 1950, so besteht kein Zweifel, daß die erste der beiden Hälften ungleich be,deutender war als die zweite. Die erste schuf Weltliteratur, die zweite schrumpft allmählich in einen Provinzialismus zusammen. Revolutionszeiten haben ja nie große Literatur hervorgebracht; doch immerhin gab es bereits zwanzig Jahre nach der Französischen Revolution Chateaubriand, Stendhal, Lamartine, Victor Hugo und Balzac. Dagegen gibt es dreiunddreißig Jahre nach der Oktoberrevolution keine russische Dichtergestalt, auf die Europa nun unbedingt angewiesen wäre. Natürlich werden russische Schriftsteller auch heute übersetzt und gelesen, doch tut man das einesteils aus künstlerisch belanglosem Parteienthusiasmus, teils aber aus einem Interesse an der Exotik; weil man wissen will, was die da drüben empfinden. Tschechow, Andrejew, Korolenko, Kuprin, auch Gorki, gehören wesentlich noch zum alten Rußland. Jenes sterbende alte Rußland erlebte von 1897 bis 1917 eine letzte Kulturnerneuerung, die den Pariser Namen Symbolismus trug, wiewohl sie am stärksten von der deutschen Romantik angeregt war. Der geniale Philosoph Wladimir Solowjoff hatte (unwissentlich) die Pforten zum Symbolismus aufgetan, und dieser gab sein Bestes in der Philosophie, in der Musik, im Theater, im Ballett und erst dann in der Literatur. So enthält dieser Sammelband für die Zeit nach 1917 einige letzte Ausläufer des Symbolismus, zum Beispiel die Schriftsteller Pilnjak und Samjatin aus der Gruppe der „Serapionsbrüder, während bei den späteren Sowjetdichtern . ein bestimmter Gruppenstil nicht mehr feststellbar ist — es sei denn der immer stärker durchschimmernde „soziale Auftrag“, der ja aber, falls der Künstler sich ihm nicht selbst gibt, nur kunstzersetzend wirkt. Der bedeutendste Sowjetdichter ist ohne Zwei' fei Soh6lochow; er ist aber ein Epiker und nicht eigentlich Erzähler. Leider sind in den Band die beiden, stets gemeinsam schreibenden (und jetzt gemeinsam verstummten) Satiriker Ilf und Petroff nicht aufgenommen worden. Diese haben in dem Gaunerhelden des Romans „12 Stühle“ die einzige wirklich originelle Sowjelgestalt geschaffen, von der man annehmen kann, daß sie die Zeit überdauern wird. Ein hervorragender Erzähler ist der gleichfalls verstummte J. Babel. Babel war der erste, der die in die Volkssprache eindringenden Zeitungsphrase als künstlerisches Mittel gebrauchte. Manche Sowjetschriftsteller flohen in die Natur oder in die Historie, um ein Gebiet zu finden, wo man sich freier bewegen konnte. Zu den ersteren gehört der ausgezeichnete Jagdschriftsteller Prischwin, der hier leider mit einem nicht sehr charakte-ristischen Beitrag vertreten ist. Selbstverständlich enthält das Buch auch Arbeiten des Satirikers Sostschenko. Sostschenko wird meiner Ansicht nach überschätzt: er stammt keineswegs von Gogol, sondern höchstens von Awertschenko ab, und seine stets gleichbleibende Tonfallsgrimasse geht einem auf die Nerven. Von allem aber, was nach 1917 auf Russisch geschrieben wurde, ist die Prosa des Nobelpreisträgers Bunin am bedeutendsten. Er ist der Ultimus Romanorum, der letzte aus einer großen Zeit. Beim Lesen seiner Erzählungen erinnert man sich des letzten Grußes, den der sterbende Tschechow ihm überbringen ließ: „Sagen Sie Bunin, daß er ein großer Schriftsteller werden wird. Richten Sie es unbedingt aus.“

überblickt man noch einmal diese Erzählungsernte eines halben Jahrhunderts, so ist man ein wenig enttäuscht — so wenig Neues, Richtunggebendes bei einem Hundertmillionenvolk? Und fast alle Erzählungen haben mit dem Tod zu tun, denn er ist immer der stärkste Stoff des schwächeren Künstlers. Um mit dem fertigzuwerden, braucht es ßchon eines Tolstoi. Durch das ganze Buch sterben die Leute wie die Fliegen. Wahrscheinlich ist das sehr realistisch, und sie taten es wirklich. Aber es geht einem nicht nahe. Die Leute dort sind mit dem Übermaß des Todes nicht fertiq-geworden. Die eine Tolstoische Erzählung „Der Tod des Iwan Iljitsch“ enthält mehr Sterben als dieser ganze Sammelband.

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