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Russische Heiligenlegenden

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Herausgegeben von Ernst Benz. Verlag Die Waage, Zürich. 52 Abbildungen. 524 Seiten.

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Herausgegeben von Ernst Benz. Verlag Die Waage, Zürich. 52 Abbildungen. 524 Seiten.

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Dank der verdienstvollen Zusammenarbeit von sechs Fachkennern liegen hier zum ersten Male die wichtigsten russischen Heiligenlegenden in deutscher Sprache vor. Alle sind sie mit Einführungen und Kommentaren versehen, die uns zu vollerem Verständnis den historischen und geistesgeschichtlichen Hintergrund geben. Dieses Bemühen wird unterstützt durch 52 Abbildungen von Ikonen und Miniaturen, die uns durch russische Augen sehen lehren. Entsprechend dem Gange der russischen Geschichte, werden wir zuerst in die Legenden aus der anfänglichen Christianisierungszeit eingeführt, sodann folgen die Erzählungen aus dem berühmten Höhlenkloster in Kiew, ein' drittes Kapitel berichtet von den Heiligen des nördlichen, des Nowgoroder Gebietes, und endlich folgen die Moskauer Heiligen des 16. und 17. Jahrhunderts. Ein sehr instruktives, mit vielen Beispielen durchwobenes Referat schildert uns die sogenannten „Jurodiwyje“, das heißt jene Narren in Christo, -die für das russische religiöse Leben so charakteristisch waren. Den Abschluß bilden einige schöne Märchenlegenden.

Wir müssen das russische religiöse Leben mit anderen Maßstäben messen, als wir gewohnt sind. Bei uns im Westen waren die Klöster Bewahrer des Kulturgutes; man sprach, man lebte im Latein, das ja auch die Sprache des Gottesdienstes war und ist. Die Russen dagegen erhielten sogleich ihre slawische Liturgie und wurden zudem durch die immer wieder verheerte Südsteppe von Konstantinopel riiehr und mehr abgeschnitten, so daß nach dem Tatareneinfall Griechisch überhaupt nicht mehr verstanden wurde. Das bedeutete eine geistige Abschnürung. Das europäische Geistesleben drückte sich in Ordensgründungen aus; die russische Kirche kennt keine Mönchsorden, sondern nur Einzelklöster und Einsiedler. Der Ursprung des westlichen wie des östlichen Mönch-tums liegt in der Thebäis — welch eine Vielfalt religiöser Gemeinschaften hat sich daraus im Westen entwickelt! Die russische Kirche dagegen blieb bei dem Urbild der Thebäis, genau so wie die Malerei bei der Ikone blieb.

Wie jene ägyptischen Mönche, flieht der russische Fromme aus der verderbten Welt, aber nicht in die Wüste, weil es keine Wüsten gab, sondern in den furchtbaren Urwald. Bedenkt man, was ein russischer Winter heißt, so müssen die Menschen, welche solches durchführten, ganz erstaunliche Willensriesen gewesen sein. Doch weil sie in den Wald zogen, hatte ihre Weltflucht eine paradoxe Folge: diese Eremiten wurden unbeabsichtigt zu Kolonisatoren — denn bald entstand neben der Einsiedelei ein Kloster, eine An-siedlung, eine Stadt.

Charakteristisch für diese Frömmigkeit ist die Askese. Meist schon in früher Jugend fassen die Heiligen den großen Entschluß, der Welt Valet zu sagen und auch die Welt im eigenen Körper und in der eigenen Seele zu bezwingen. Die Andacht vor der Gottesschöpfung, die in der neueren Frömmigkeit, und z. B. auch bei Dostojewski eine solche Rolle spielt, kommt bei ihnen kaum zum Ausdruck: sie halten ihren Blick, von der Schöpfung weg, unverwandt auf den Schöpfer gerichtet. Gehorsam, Demut, Sanftmut und die Gabe der Tränen zeichnen sie aus. Wenn zwei Fromme einander begegnen, so sinken sie weinend ins Gebet. Geschieht dem Heiligen ein Wunder, so verschweigt er es oder bittet den Zeugen kniefällig, niemandem davon zu sagen: denn er will durch den Ruhm bei den Menschen nicht in Versuchung fallen.

Doch schon der dritte Zyklus der Heiligen, jener aus dem 13. bis 15. Jahrhundert, aus der „nördlichen Thebäis“ von Nowgorod bis zum Eismeer, weist besondere russische Züge auf. Wir haben dort den Kriegsmann Alexander Newski, der das politische Schicksal entscheidet, den heiligen Narren Prokopi von Ustjug und den großen Einsiedler Sergej Radoneshski, der das Urbild der später so berühmt gewordenen „Starzen“ ist.

Der „Jurodiwyi“, der heilige Narr, ist, wie das Buch ausführt, eine Erscheinung des bereits konsolidierten, ja erstarrten Christentums. In Auflehnung gegen diese Routine tritt der Narr auf, der aller hergebrachten Würde ins Gesicht schlägt und oft einn symbolischen Humor besitzt, während dem anderen Frömmigkeitstypus der Humor völlig fremd Ist. Es ist, als ob neben der strengen Ikone plötzlich ein zuckender Groteskfilm abläuft. Dabei ist der Narr ein noch größerer Asket: er wird verachtet, läuft halbnackt herum und bleibt obdachlos. Von den kanonisierten „Jurodiwyje“ wird ausdrücklich bezeugt, daß ihr Narrentum nur vorgehaltene Maske war. In Nowgorod gab es 2. B. zwei Stadtpsirteien, die eine auf der linken, die andere auf der rechten Seite des Flusses: sie pflegten sich auf der Brücke zu bekämpfen, wobei die Unterliegenden ins Wasser geworfen wurden. Diese wüsten Kämpfe wurden von zwei „Jurodiwyje“ clownartig parodiert — der eine vom rechten, der andere vom linken Ufer kommend, stritten sie miteinander auf der Brücke, bis schließlich der eine ins Wasser geworfen wurde, doch dieser wanderte dann auf dem Wasser, wie auf den Wellen Genezareths, wohlgemut wieder ans Ufer.

Ein neues Antlitz wiederum zeigen die Moskauer Heiligen des 16. und 17. Jahrhunderts. Damals, nach der Befreiung vom Tatarenjoch und nach Uebernahme des byzantinischen Zarentitels, gab es so etwas wie den Versuch, die allrussische Herrschaft auch geistig zu begründen und den Kontakt mit Europa wiederaufzunehmen. Der Kreml wurde von Italienern gebaut und ein Grieche vom Berge Athos geholt, damit er die fehlerhaften Abschriften liturgischer Bücher korrigiere. Dieses war Maxim Grek, ein Mann, der in Florenz studiert und Savonarola gekannt hatte. Als der mit ihm befreundete Großfürst Wassili seine Gattin wegen Kinderlosigkeit verstoßen und eine andere heiraten wollte, widersetzte sich Maxim diesem Vorhaben mit Mut. Dafür wurde er unter dem Vorwande, er habe mit seinen Korrekturen häretische Lehren eingeschmuggelt, in einem fürchterlichen Kerker an Kette und Eisen gelegt, wo er 22 Jahre schmachten mußte. Er weissagte, daß das Kind aus dieser ehebrecherischen Verbindung Unheil über Rußland bringen werde: es war das der nachmalige Iwan der Schreckliche. Diese Moskauer Heiligen sagten ihren Zaren die Wahrheit. Eine große Bekennergestalt war auch der Metropolit Philipp von Moskau, der Iwan dem Schrecklichen die Greuel seiner „Opritschnina“ (eines Terrorregimentes zaristischer Schergen) vorhielt und von dem berüchtigten Günstling Maljuta Skuratow mit einem Kissen erstickt wurde. Bekanntlich zog Zar Iwan gegen seine eigene, unschuldige Stadt Nowgorod zu Felde und richtete dort ein Blutbad an, dem 30.000 Menschen zum Opfer fielen. Als er nun in der benachbarten Stadt Pleskau anlangte, um ihr dasselbe Schicksal zu bereiten, wurde er von einem Jurodiwyi zum Essen eingeladen. Es war Fastenzeit, und er setzte dem bigotten Zaren ein Stück rohes Fleisch vor. Als dieser davor zornig zurückfuhr, sagte der Narr gleichmütig: „Warum nicht, wenn du doch Christenblut trinkst.“ Das hatte immerhin die Wirkung, daß wenigstens Pleskau verschont blieb.

In einer solchen Welt Heiliger zu sein, ist noch schwerer als in einem menschlicher geordneten Lande, ähnlich wie es einem Durchschnittsmenschen z. B. in Neapel schwerer fallen dürfte, anständig zu bleiben, als etwa in Zürich. Jeder Heilige durchschaut die Welt, doch die Art, wie sich das äußert, kann sehr verschieden sein. Die russischen Heiligen lebten in einer so grimmigen Welt, daß sie in die Extremtypen des Einsiedlers und des Narren geradezu gedrängt wurden, wie ja auch der Dichter in verrotteten Zeiten nicht anders kann als Satiriker zu werden. Aber gerade von solchen Heiligen lebt ein Volk.

Wer etwas von Rußland verstehen will, sollte dieses Werk lesen.

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