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Rußland, Polen und der „Westen“

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Der Autor dieses blendenden, tiefen und formschönen Buches ist zu Moskau 1891 als Sohn eines liberalen Führers der in Rußland lebenden Polen geboren. Er verbrachte das erste Vierteljahrhundert seines Erdenwallens vordringlich im einstigen Zarenreich, hatte jedoch im Hause seines bedeutenden Vaters und auf häufigen Reisen regen Kontakt mit dem Westen. Seit 1928 war er, bis zum Beginn des zweiten Weltkrieges, Professor der russischen Literatur an der Jagellonischen Universität in Krakau. Während längerer Zeit hielt er Vorlesungen an der Brüsseler Universität, und seit über zehn jähren lehrt er slawische Sprachen und Literaturen an amerikanischen Hochschulen, als Gastprofessor in Harvard und ständig an der Staatsuniversität Kaliforniens in Berkeley. Vollkommen viersprachig, beherrscht Lednicki gleichermaßen Polnisch und Russisch, Englisch und Französisch. Gleich dem vor zwei Jahren verstorbenem hervorragenden Historiker und Politiker Jan Kucharzewski hat er sich zur Hauptaufgabe gemacht, die Stellung Polens und Rußlands innerhalb der europäischen Gesamtheit die Beziehungen beider slawischen Staaten zueinander und zum Westen auf das mannigfachste zu beleuchten. Während aber Kucharzewski das Reinpolitische in den Vordergrund rückte und seine wesentlichen Ergebnisse in das, auszugsweise auch in Englrch veröffentlichte, vielbändige Monumentalwerk „Vom Weißen zum Roten Zaren-tum“ barg, beschäftigt sich Lednicki in erster Linie mit den geistigen, kulturellen Zusammenhängen. Mickiewicz steht im Mittelpunkt seiner Forschungen. Vom polnischen Dichterfürsten aus strahlt Lednickis Gelehrsamkeit nach Moskau, zu den dortigen Freunden — und späteren Feinden — des polnischen Romantikers hinüber. Er befaßt sich mit Puschkin, den Dekabristen. Er untersucht dann, in der Zeit fortschreitend, die weiteren Beziehungen zwischen den russischen Dichtern und Polen, dem Westen. Gogol, Dostojewskij, Tolstoj sind wiederholt Gegenstand seiner Arbeiten gewesen. Das alles aber soll nur den Stoff und die Grundlage für die Leitideen Lednickis bilden, der, gestützt auf seine eigenen Lebenserfahrungen und auf eindringlichste Kenntnis Rußlands, Polens und des Westens, die Zugehörigkeit seiner Nation zum Abendland, die Andersartigkeit Rußlands, das nie zu einer Bürgschaft für die persönliche Freiheit seiner Bürger vorgedrungen ist, und die teils vermittelnde, teils trennende Rolle Polens zwischen Rußland und dem Westen verficht. Lednicki, zeigt insbesondere, wie sehr auch die vom Westen angelockten, ihn gut kennenden und zeitweilig von den heimischen Verhältnissen angewiderten russischen Intellektuellen aus Aristokratie und gebildeten, mittellosen Beamtenstand dem andersartigen überkommenen Wesen verhaftet blieben; wie sie rumeist diesem wieder verfielen und daß sich dies vor allem in ihrer feindlichen Haltung gegenüber Polen ausdrückte. Puschkin, Dostojewskij werden dafür in Lednickis jüngstem, hier zu besprechenden Buch als Kronzeugen angerufen. Ihnen treten als seltene Ausnahmen der bekannte Geschichtsphilosoph Schaadaev und der geniale Poet Blok gegenüber.

Beim ersten ist das aus seiner Hinneigung zum Katholizismus zu erklären, die ja auch bei Solowjev ähnliche Wirkung auslöste. Bei Blok wurzelt die Sympathie für Polen im revolutionären Ethos; vielleicht auch, ähnlich wie bei Hercen, in gefühlsmäßiger Bindung an den Westen, aus dem die deutschen Ahnen, die fernen väterlichen des Dichters der „Zwölf“, die mütterlichen des Herausgebers des „Kolokol“ stammen

Aus den wertvollen Einzeluntersuchungen, die Lednickis Buch enthält, erwähnen wir die über den geheimnisvollen Polenfreund, der Puschkins Aergernis erregt hatte und den unser*Autor in Schaadaev zu finden meint, nicht ohne loyal einige Argumente für eine der seinen entgegenstehenden These des emigrationsrussischen Literaturhistorikers. Struvo beizutragen, der einen Fürsten Kozlovskij als den unbekannten Polonophilen entdeckt haben will. Von noch größerem allgemeinen Interesse sind die Studien über Dostojewskij, dessen fanatischen Haß gegen Katholizismus, Sozialismus und Polentum, welche drei Gegner Rußlands der aus einem Paulus zum Saulus der Demokratie Gewordene alle in einen, der Vernichtung würdigen Topf wirft. Wertvoll ist ferner, was Lednicki über die politischen Konzeptionen Dostojewskijs bringt, der so etwas wie eine Tauroggenpolitik predigte. Ganz hervorragend dünkt uns die Analyse, wir möchten lieber sagen: die Ausmaße, der Dopplung von Dostojewskijs Persönlichkeit in ein gutes Ich und ein böses Wider-Ich. Am subtilsten aber dürfte das Kapitel sein, darin von den tiefsten Quellen der Polonophobie Dostojewskijs gehandelt wird. Lednicki setzt sich dabei mit der angeblichen Herkunft des Autors der „Brüder Karamazov“ aus polnischem Adel auseinander. Die unleugbare Tatsache, das eine zur Szlachta des Wappens Radwan gehörende, ursprünglich orthodoxe und bjelorussische Familie vom 16. zum 18. Jahrhundert blühte, würde an und für sich wenig besagen. Die Möglichkeit, daß der erste gesicherte Vorfahre Fedor Dostojewskijs, ein Pope, einem pravoslawen Zweig desselben Geschlechts angehört, der sozial abgesunken war, ist nicht von der Hand zu weisen. Gewißheit wäre nur durch sorgsames Erforschen der Matrikeln und der Grodbücher zu holen, was bisher unterlassen wurde. An eines aber hätte Lednicki erinnern sollen: an die merkwürdige Parallele zu Sienkiewicz, der in seinen Geschichtsromanen die heftigste Feindschaft gegen alles Tatarische bekundet und der, wie nach seinem Tode durch Forschung festgestellt wurde, selbst einer ursprünglich tatarischen Familie entsproß! Sollte es sich bei Dostojewskij um einen ähnlichen geheimnisvollen psychischen Vorgang drehen?

Gedenken wir noch der wundervollen Einfühlsamkeit, mit der Lednicki die „Vergeltung“ Bloks als dichterische Antwort auf den „Ehernen Reiter“ Puschkins dartut, als die russische Antwort auf, und als Absage an die polenfeindlichen Ausbrüche Puschkins und Dostojewskijs. Und doch, daß eben dieser Russe aus deutschem Stamm wenige Jahre darnach Europa, dem faulen Westen „Die Skythen“ entgegenschleuderte, ist das nicht die stärkste Bekräftigung der Thesen Lednickis vom asiatischen Rußland, vor dem der westliche Pole in die Freiheit jenseits des Ozeans flüchtete?

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