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Rußland und der Westen

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Rom, im April 1946

Das päpstliche Bibelinstitut, dessen Präsident seit vielen Jahren der Aachener Jesuitenpater Emil H e r m a n ist, veranstaltet augenblicklich eine Vortragsreihe, die sich mit verschiedenen allgemeinen, insbesondere religiösen Fragen der slawischen Völker befaßt. Sicherlich besteht kein innerer Zusammenhang dabei mit dem selbstbewußten Satz, den vor einigen Monaten auf dem panslawischen Kongreß in Preßburg einer der Hauptredner programmatisch verkündete: Das Jahrhundert des Slawentums ist angebrochen. Aber das Slawentum mit seinen weltanschaulichen Kämpfen, mit deinen sozialpolitischen Umformungsprozessen und seinem nach Westen vordringenden Völkergeschiebe nimmt die Aufmerksamkeit so vieler Beobachter am Mittelpunkt der katholischen Welt erhöht in Anspruch. Ein bevorzugter Beweis dafür war vor allem auch das Weltrundschreiben Pius' XII. zum 350. Jahresgedächtnis der Vereinigung der ruthenischen Kirche mit dem Apostolischen Stuhl vom 23. Dezember 1945. So mannigfache Probleme des Slawentums im Bereiche der Völkergemeinschaft und im Lebensraum des Christentums sind in Gärung begriffen. Viele verzweifeln fast daran, je die Züge der Sphynx des Ostens völlig enträtseln zu können. Und doch kann das Erkennen auch auf diesem weiten Gebiete, von dem einmal der so verdienstvolle frühere Ordinarius für slawische Philologie an der Universität Breslau, Prof. Dr. Erdmann H a n i s c h, der Verfasser des ersten neuzeitlichen Werkes über die Geschichte Polens und der Autor einer vielbeachteten russischen Geschichte, beklagte, daß die Kenntnisse hierüber im deutschsprachlichen Raum so lückenhaft seien, durch ernste Gelehrtenarbeit vorwärts gebracht werden. In Rom hat man sich am päpstlichen orientalischen Institut und dem daran angeschlossenen Russicum das Forschungsund Arbeitfeld svtematisch aufgeteilt. Einige verheißungvolle Früchte davon, wie die erste Russische Kirchengeschichte in deutscher Sprache, aus der Feder von P. Ammann, Professor am Russicum, liegen schon vollständig druckreif bereit. Andere durchlaufen noch das Stadium der wissenschaftlichen Kontroverse, wie es uns gestern in einem kenntnisreichen Vortrag des kroatischen Gelehrten am päpstlichen orientalischen Institut und am römischen Bibelinstitut, P. Stephan Sakatsch, in einem Referat „Neue Meinungen über den Ursprung und die Entstehung der slawischen Völker“ entgegentrat. Wie lange hat der Kompaß der Forschung bei Generationen von Sprachforschern, Historikern und Ethnologen bei diesen zum Teil vorgeschichtlichen Vorgängen und Ereignissen hin- und hergeschwankt und zu den kühnsten Hypothesen Anlaß geboten. Die Sprachforscher standen in Widerstreit gegen die Historiker, und diese ihrerseits rümpften nicht selten über die Einseitigkeit der Linguisten die Nase. Stiller, unverdrossener Gelehrtenfleiß, an dem P. Sakatsch selbst seinen Anteil hat, haben zu dem gesicherten Ergebnis geführt, daß die Urheimat vieler slawischer Stamme im Iran ist. Bis auf die Geschichte des großen Perserkönigs Darius I. (521 bis 495 v. Chr.) führt die Kette verbürgter völkerkundlicher Ergebnisse zurück. Die Stammesbezeichnung kroatisch bestand schon

unter diesem altpersischen Herrscher im Iran.

*

Im Vortragssaal des orientalischen Instituts zu Rom kam uns die lebendige Erinnerung an einen Ordensmann, der vor

längeren Jahren auf dem gleichen Katheder mit ernster gewichtiger Stimme, aber doch mit der unnachahmlichen Feinheit und Eleganz seiner Gedankenführung sprach: P. Friedrich Muckermann, der nunmehr so unerwartet Heimgegangene, dessen Lebensabschluß nicht in mattem Schimmer, sondern in vollem Sonnenglanz fast einzigartiger, zeitkritischer, nach Inhalt und Form sich als Spitzenleistungen charakterisierender eigener Buchschöpfungen liegt. Hatte sich dieser Meister der stilistischen Formgebung und der psychologischen Vertiefung nicht schon selbst übertroffen in seinem vorletzten ganz reifen Werk über den Menschen im Zeitalter der modernen Technik. Und nun hat er der Mit- und Nachwelt gleichsam als Abschiedsgabe seines so verantwortungsbewußten, mit scharfer pupillarischer Sicherheit ausgestatteten Geistes sein Werk „Wladimir Solowiew“ („Zur Begegnung zwischen Rußland und dem Abendland“) hinterlassen. (Verlag Otto Walter A. G., Ölten, Schweiz.) Auf mehr als 200 Seiten, die dieser erste Band einer von Dr. J. David herausgegebenen Biographienreihe „Kämpfer und Gestalter“ umfaßt, hat P. Friedrich Muckermann noch einmal sein so seltenes Talent für die Darstellung des Wesentlichen im Flusse des Geschehens und für das wahre Sein gegenüber dem blendenden irrlichternden Schein entfaltet. Wir haben Muckermanns sozial fühlendes Herz und seine scharfe Visierung des Blickfeldes in seinem Bande über den Menschen in der Ära der modernen Technik kennen gelernt. In der Monographie über Wladimir Solowiew bringt er uns den russischen Newman als christlichen Denker und Wegweiser plastisch nahe, wobei der Akzent auf dem letzteren liegen dürfte. Muckermann interpretiert die Auffassung des bedeutendsten Religionsphilosophen Rußlands unter

anderem wie folgt: „Der Orient soll nicht aufgeben, was er von seinen Vätern ererbt hat. Aber er muß aus seiner Abgeschlossenheit heraus und den Weg zu Ende gehen, der geschichtlich mit Peter dem Großen beschritten wurde. Es ist nichts mit der Theorie

vom ,faulen Westen', an der Dostojewski und überhaupt die Slawophilen nur so hartnäckig festhalten konnten, weil sie entweder den Westen überhaupt nicht kannten, oder ihn in ihrer nationalistischen Eigenliebe und Selbstüberschätzimg nicht kennen lernen wollten. Was dem Bewohner des heiligen Rußland zugemutet wird, ist im Grunde nur die Besinnung auf das Wesen des Christentums, der Religion, zu der er sich so freudig bekennt und immer bekannt hat. Es ist nicht das Aufgeben irgendeines Wertes, der in der großen russischen Vergangenheit erworber! wurde, es ist nur die Einsicht, daß Rußland nicht die Welt ist, wenn auch freilich berufen, als großes Volk, das eine glorreiche, wenn auch leiderfüllte Geschichte hinter sich

hat, sein eigenes Wort im Chor der Kultur-* völker der Erde zu sprechen.“

Muckermanns literarische Ab.schiedsgabe über Solowiew hat zunächst in der Schweiz einen starken, im Blätterwalde vielfach vernehmbaren Widerhall hervorgerufen. Viel beachtet wurde die Auffassung Muckermanns, daß Solowiews Versöhnung zwischen Rußland und dem Abendlande als vorbildlich anzusehen sei, und daß die Weltlage die unumgängliche Notwendigkeit einer Verständigung zwischen dem Osten und dem Westen erfordere. Aber die Idee Mucker-manns, daß Solowiew der große geistige Vermittler hiefür sei, daß seine historische Stunde gekommen wäre, hat bei einem namhaften schweizerischen Kritiker Widerspruch erregt, der unter Anlehnung an die stark rationalistischen Gedankengänge von Th. Masaryk in dessen Studien über die geistigen Strömungen in Rußland, „Rußland und Europa“, vor mehr als drei Jahrzehnten die Geistesarbeit Solowiews unter dem Gesichtspunkt einer ihr Ziel nicht erreichenden Lebenstragödie, auffaßte. Der schweizerische Kritiker in der „Neuen Zürcher Zeitung“ glaubt Solowiew deshalb auch für die Zukunft als Wegbereiter einer geistigen Versöhnung zwischen Rußland und dem Abendland und als Bannerträger für eine Union im Sinne der Beseitigung der Kirchenspaltung nicht annehmen zu können.

Wir glauben aus zahlreichen Gründen, daß Friedrich Muckermann das richtige Gespür für die Möglichkeiten eines großen „mortuus adhuc loquitur“ in der Gestalt Solowiews besessen hat. Man kann dem Autor, der Jahrzehnte über, auch im Lande selbst, slawischen, insbesondere russischen Problemzusammenhängen nachgegangen ist, schwerlich in seinen geistesgeschichtlichen Ausführungen, wie geschehen, einen Mangel an realistischer Betrachtungsweise vorhalten.

In diese Fehler verfallen allerdings allzu leicht selbst sehr qualifizierte und talentvolle Beobachter und Freunde des russischen Geisteslebens, ja mitunter sogar hervorragende Russen, wie ein so erfahrener Kenner der Materie, wie der elsässische Literaturhistoriker und Polyglott Dr. Joseph Frober-ger, schon vor 25 JaGren anläßlich des damaligen Dostojewski-Jubiläums festgestellt hat. Er konnte diesen Einwand selbst einem Mereschkowski nicht ersparen, der ungeachtet seines reichen Geistes derart gewöhnt sei, „geistige Gebilde“ zu konstruieren, daß man seinen Angaben über die Wirklichkeit nicht recht trauen dürfe. Und doch erklärte er, daß Mereschkowskis Werk „Tolstoj und Dostojewski“ das geistvollste Buch sei, das je über Dostojewski geschrieben wurde. Verhältnismäßig einfach ist es,; bei einem mit Gedankengut reich beladenen Werk, wie in Muckermanns „Solowiew“, diesen oder jenen Gedankeh des über eine weiträumige Anschauung verfügenden Auslegers der Geistes--und EjiBpfindungswelt eines fremden Genius mit einem Fragezeichen zu versehen. Jedenfalls bleibt es etwas sehr Bedeutsames, daß Muckermann in den Fußstapfen Solowiews einer „in die Tiefe des Geistigen und Seelischen reichenden Berührung und Durchdringung von Rußland und Europa“ auf der Grundlage des wahren Christentums das Wort geredet hat. Die Aufgeschlossenheit für solche Ideen ist in Rom allerdings nicht erst seit gestern zu Hause. Die vor einigen Jahren in verhältnismäßig kurzer Aufeinanderfolge in der Ewigen Stadt verstorbenen geistlichen Freunde Fürst Wolkonsky und Prälat Sipiagin waren nicht nur Anhänger einer solchen Idee, sondern sie verkörperten sie in ihrem priesterlichen Schaffen und vorbildlichen Wandel.

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