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SAISON IN WARSCHAU

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Ceit den Uranfängen des Theaters kamen dessen Zuschauer - entweder des Stückes wegen oder wegen der darstellerischen Leistung der Schauspieler. Diese eiserne Regel ist auch heute und auf Warschau anwendbar. So könnte also die Zuhörerschaft geteilt werden in jene, die sich einem Stück verbunden fühlt, und in die Verehrer eines bestimmten Schauspielers.

In den letzten Jahren gesellte sich diesen beiden Gruppen von Theaterbesuchern eine dritte hinzu, nämlich die Gruppe derer, die an den Problemen des Stückes interessiert ist. Das Theater — sagen diese — müsse die Zweifel der Zuhörer zerstreuen können und sich mit zeitgenössischen Problemen beschäftigen. Wie viele Erwartungen und Hoffnungen muß doch das zeitgenössische polnische Theater erfüllen, um gleichzeitig künstlerisch und modern zu sein, sowohl in bezug auf schauspielerische Darstellung als auch auf die Kunst der Bühnengestaltung!

Das polnische Theater verfügt über eine reichhaltige Überlieferung, die bis in das Zeitalter der Aufklärung zurückreicht. Seine Tradition ist eng verbunden mit dem Bedürfnis des Volkes nach Schauspielkunst und der Gewohnheit des Theaterbesuches. Das Theater war eine der Hauptstützen der polnischen Sprache zu einer Zeit, als diese Sprache verboten war. Von der Bühne herab konnten oft Worte zur Verteidigung der Freiheit und der Menschenrechte vernommen werden. Trotz der schweren Jahre der Teilung, Okkupation und Wirtschaftskrisen erholte sich das polnische Theater immer wieder und eroberte sich seinen alten Glanz zurück.

Seine Grundfesten werden heute durch das Fernsehen stark erschüttert. Im gegenwärtigen Augenblick ist es zu früh, irgend etwas vorauszusagen. Das Abgleiten der Besucherzahlen des Theaters ist eine allgemeine Erscheinung auf der ganzen Welt.

Polen, dessen Fernsehen eine außerordentlich rasche Entwicklung nahm, stellt in dieser Hinsicht keineswegs eine Ausnahme dar. Wenn jedoch das polnische Theater im Jahre 1960 mehr als elf Millionen Zuschauer, im Verhältnis zu einer Bevölkerungszahl von dreißig Millionen, für sich beanspruchen konnte und wenn diese Theater mehr als 34.000 Vorstellungen gaben, dann kann die Situation wirklich nicht so schlecht sein.

Es ist interessant, festzuhalten, was eigentlich im Brennpunkt des Publikumsinteresses während der letzten Theatersaison stand. Die Aufführung eines Schauspiels als einen Spitzenerfolg zu werten, ist gleichbedeutend mit einer Bestimmung des Publikumsgeschmacks und des Interesses für ein bestimmtes Gebiet. Bei Annahme, daß die Warschauer Theater repräsentativ für die kulturellen Bedürfnisse des polnischen Gemeinwesens sind, könnte dieser Gedankengang erweitert werden.

Das ist jedoch nicht die richtige Methode. Wir dürfen nicht vergessen, daß, obschon Warschau bloß ein Viertel aller polnischen Bühnen beherbergt, diese entschieden die besten sind. Anderseits kann das Warschauer Publikum schon deshalb nicht als repräsentativ angesehen werden, weil Warschau als die Landeshauptstadt nicht nur die geistige Elite in sich vereinigt, sondern auch einen bedeutenden Teil der sogenannten Intelligenzschichten.

Die vergangene Theatersaison bestätigte erneut den großen Erfolg von „Hamlet“ in der Inszenierung des „Powszechny“- (Volks-) Theaters in Warschau. Dieses kleine Theater wurde vom Publikum für eine beträchtliche Zahl von ehrgeizigen und interessanten Premieren oftmals gepriesen. Der Erfolg dieses Dramas ist einerseits dem Genius Shakespeares und anderseits dem Talent des Regisseurs zuzuschreiben, dem es gelang, in „Hamlet" die das zeitgenössische Publikum interessierenden wirklichen Probleme hervorzukehren. Der Erfolg war auch der interessanten darstellerischen Leistung Adam Hanuszkiewicz’ zu danken, der der Träger der Hauptrolle war. Dieser junge Schauspieler gab seinen Hamlet mit einer ganz modernen psychologischen Einfühlung, die wesentlich zu dem erwähnten Erfolg der Aufführung beitrug.

Ein anderes Stück, das seiner Aufführung wegen dem vergangenen Spielplan zugehört, aber in Anbetracht seines Erfolges in die beginnende Spielsaison übernommen wird, ist Leon Kruczkowskis „Der erste Tag der Freiheit“. Das Stück spielt in einer kleinen, von alliierten Truppen besetzten deutschen Stadt und schildert die Tragödie der Freiheit, wie sie von den Menschen als ein Ergebnis der durch den Krieg erzwungenen Beschränkungen erlebt wird. Dieses Problem ist in unserer Mitte noch lebendig. Leon Kruczkowski, der in Europa weithin bekannte Autor des Stückes „Die Deutschen", leistet damit seinen Beitrag zur Diskussion über das Thema „Die Freiheit und ihre Begrenzungen“. Solcherart stellen die politischen Beweggründe des Stückes dessen hauptsächliche Zugkraft dar.

Als das Beispiel eines Stückes, das auf Grund einer überzeugenden künstlerischen Leistung zum Schauspielerfolg wurde, kann das Stück „Die Bäume sterben stehend“ von Casson angesehen werden, das im „KIasyczny“-Theater über die Bretter ging. Mieczyslawa Cwiklinska, eine der größten Schauspielerinnen der älteren Generation, war die große Zugkraft, die in einem einzigen Jahr dem Stück ein Publikum von nahezu 82.000 Menschen Verschaffte. ,9įli3)i-),ir.s,

Der Theaterspielplan 1960/61 umfaßte 466 Premieren von 358 Schauspielen. Es muß erwähnt werden, daß es in Polen fünfzig Theater gibt, die auf 113 Bühnen Vorstellungen geben. Was die heurige Spielsaison betrifft, werden 69 alte polnische Stücke, 95 zeitgenössische und Zwischenkriegsstücke, ferner 92 ausländische klassische Dramen sowie 102 ausländische zeitgenössische Schauspiele zur Aufführung gelangen.

Eine Übersicht über das polnische Theaterrepertoire müßte gemäß Überlieferung mit Fredro beginnen, der in der gegenwärtigen Spielsaison auf unseren Bühnen mit dreizehn Stücken vertreten ist, auf welche zwanzig Premieren entfallen. Wir werden auch dreizehn Neuinszenierungen von Dramen Slowackis und von sieben Stücken von Wyspianski zu sehen bekommen. Unter den letzteren befindet sich das Drama „Die Hochzeit“, welches auf drei Bühnen zur Aufführung gelangen wird. Stücke von Kochanowski, Balucki, Perzynski, Blizinski, Korzeniowski, Zablocki und anderen werden ebenfalls über die Bühne gehen.

Unter den ausländischen Klassikern wird Shakespeare mit neunzehn Dramen mit zwanzig Premieren qn der Spitze stehen. Vorgesehen sind Aufführungen der Stücke „Timon von Athen“, „Macbeth“; „Coriolanus“, „Julius Cäsar“, „Romeo und Julia“, „Hamlet“, „Othello“ und „Richard III.“. Das letzte Drama wurde bereits zum größten Bühnenerfolg der diesjährigen Spielsaison. Aufführungen von Stücken Goethes wie „Faust“, „Iphigenie auf Tauris", „Egmont“ und „Reineke Fuchs" sind gleichfalls geplant. Weiters sind Inszenierungen klassischer Stücke von Aristophanes, Aeschylos, Sophokles, Plautus, Lope de Vega, Goldoni, Shaw, Gogol sowie Ostrovski und anderen vorgesehen.

Die Liste der Autoren zeigt, daß im heurigen Repertoire des polnischen Theaters die polnischen Bühnenschriftsteller im Vordergrund stehen. Dies steht in hohem Maße mit den Publikumswünschen im Einklang und ermöglicht es den Zuschauern bei entsprechender proportionaler Berücksichtigung ihrer Interessen, im Theater sowohl die Überlieferungen der polnischen Dramaturgie, als auch die Traditionen der zeitgenössischen Weltliteratur kennenzulernen.

Das größte Theaterereignis der Spielsaison war zweifellos die Aufführung „Richard III.“ im Athenaeum-Theater in Warschau. Dieses Shakespeare-Drama ist in Warschau seit 61 Jahren nicht gespielt worden. Das letzte Mal wurde es in Krakau vor 40 Jahren aufgeführt. Das ist auch der Grund, warum die Kritik der Aufführung Richard III., welche ein wahres Meisterstück in bezug auf Inszenierung und Spiel war, so große Bedeutung beimißt. Der Erfolg der Aufführung ist hauptsächlich Jacek Woszczerowicz zu danken, der nicht nur die Hauptrolle des Stückes spielt, sondern auch für dessen Inszenierung und Bearbeitung als verantwortlich zeichnet. Die Kritik fand Worte des höchsten Lobes für die von ihm geführte Regie des Stückes. Seine gediegene und klare Regiekonzeption und seine logischen und zugleich schöpferischen Bühnenanweisungen sowie sein hervorragendes Spiel in Verbindung mit der Fähigkeit, den äußeren Merkmalen der geistigen Verfassung Richard III. lebenden Ausdruck zu verleihen — dies waren die Verdienste von Woszczerowicz’ Schöpfung. Man kann annehmen, daß Richard III. ein langes Leben auf der polnischen Bühne haben wird.

Eine weitere interessante Erstaufführung war die von G. B. Shaws Komödie „Man kann nie wissen“ („You never can teil“) am Narodowy- (National-) Theater in Warschau. Das Stück wurde von Ewa Bonacka inszeniert, der es nicht nur gelang, den Charme dieses Lustspiels wiederzugeben, sondern auch gleichzeitig die Akzente der sozialen Kritik hervorzukehren. Wladislaw Krasnowiecki, ein der älteren Generation angehörender Schauspieler, zeichnete sich in diesem Stück in seiner Rolle als Kellner- Philosoph aus.

Nicht unerwähnt bleiben darf die Inszenierung von Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ im Athenaeum-Theater in Warschau. Dieses Stück erfreute sich eines großen Erfolges in Krakau und, wird derzeit in Warschau inszeniert.

Zu den Stücken, die demnächst in Warschau zu sehen sein werden, gehört „Der Mantel“ von Gogol. Das Stück, die Bühnenversion der gleichnamigen Novelle Gogols, die von dem berühmten polnischen Dichter Julian Tuwim 1934 bearbeitet wurde, wurde damals von der Kritik kühl aufgenommen. Nach 25 Jahren wurde das Stück im Polski-Theater von Wladyslaw Hancza neuinszeniert, und es wurde sogleich offenkundig, daß es Tuwin mit seiner großartigen Bearbeitung des „Mantel“ gelungen ist, aus einem literarischen Werk Gogols ein Bühnenwerk zu schaffen, das der Größe dieses Dichters würdig ist.

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