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Salzburgs „Jedermann“

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Die innerösterreichische Diskussion über den Salzburger „Jedermann“ ist noch nicht abgeschlossen. Vielleicht tut es uns Österreichern gut, hier die Stimme einer angesehenen ausländischen Persönlichkeit, die seit vielen Jahren unserem Lande treu verbunden ist, zu hören — eine Betrachtung von einem anderen Ufer, di nicht unvermerkt bleiben sollte.

„Die österreichische Furche“

Die Kommentare, die Jahr für Jahr über die Salzburger Festspiele erscheinen, spiegeln die fast einmütige Meinung des Publikums wider. Diese übereinstimmenden Beurteilungen legen Zeugnis ab von einer tiefeingewurzelten Einheitlichkeit des Kulturniveaus, die hinter einer Vielheit der Formen und des Ausdrucks aufscheint; was aber „Jedermann“ betrifft — jenes Stück, welches den Grundstein zu den Festspielen gelegt und ihren Ruhm begründet hat —, so teilen sie sich. Wollte man vielen Kritiken Glauben (schenken, dann hätte das Mysterienspiel von Hugo von Hofmannsthal viel von seinem Interesse eingebüßt; nur eine pietätvolle, doch hemmende Tradition halte es noch auf dem Programm.

Diese Betrachtungen überraschen zuerst; der fremde Besucher, in Bewunderung versunken, ist geneigt, die Österreicher des Undanks zu bezichtigen, ja sogar in einem plötzlichen Anfluge der Entrüstung von Verleugnung zu sprechen; aber wäre es zuallererst nicht besser, die Hauptinteressierten zu Worte kommen zu lassen? Viele von ihnen geben offen zu, daß sie ides „Jedermanns“ müde sind, dessen Darstellung in ihrem Innern jenen kleinen Schock verursacht, jene Art von Mißstimmung hervorruft, wie sie uns vor Gegenständen oder Menschen überkommt, die man nach langer Abwesenheit wiedersieht und nicht wiedererkennt. Ist das Stück vielleicht gealtert? Ja, aber sind denn die Zuschauer immer dieselben geblieben? Sind sie nicht ebenfalls gealtert?

Doch was bedeuten die.Meinungsverschiedenheiten über diese Perspektivenfragen? Der Fluß fließt dahin und die Landschaft zieht an uns vorbei; viel Wasser ist unter den Brücken der Salzach seit zehn Jahren dahingeflossen; seitdem sind sie zurückgeflutet, doch ähnlich der Sintflut ließen sie schlammige Rückstände zurück, die jeden von uns, ob er wollte oder nicht, beschmutzt haben. Grazie und Leichtigkeit sind erstarrt, das verständnisvolle Lächeln ist verschwunden, die Gesichtszüge wurden verschlossen und eine brutale Härte, die man beschönigend Realismus nennt, betrachtet mit Verachtung jedes Wesen oder jede Schöpfung, die eich nicht mit Brutalität zur Schau trägt; und man muß es eingestehen, daß „Jedermann“ zu letzteren zählt.

Man könnte denken, daß einige Inselchen es dennoch überlebten, daß Salzburg einer jener Orte geblieben sein könnte, wo man eine reine Luft atmen würde, wo die Musik von einst noch ihre Macht ausüben könnte, aber die Gegenwart, welche so schwer lastet, wirft das Salzburg von 1937 in eine ferne Vergangenheit; diese Atmosphäre der Sorglosigkeit und der Leichtigkeit, diese Wonne des Lebens, sind zertrümmert. Und derjenige, der in unseren Tagen den Festspielen beiwohnt, fühlt

„den Schatten der Tage,

welche nicht mehr sind“,

vorüberziehen.

So versteht man das Bestreben der literarischen und anderer Blätter, mit dieser peinlichen Dissonanz zwischen dem, was war, und dem, was ist, zwischen diesem Gespenst von einst und der noch schwereren Wirklichkeit von heute ein Ende zu machen; es ist vollauf berechtigt, Neues zu fordern, wenn die Schöpfungen der Vergangenheit enttäuschen und den Staub abschütteln zu wollen, auch Wenn er verehrungswürdig ist. Doch wo ist dieser Staub? Hat er sich auf das Stück selbst gelegt? Auf die Art der Inszenierung oder in die Herzen des Publikums? Was das „Neue“ betrifft, so haben die Versuche des abgelaufenen Jahres fehlgeschlagen. Weder „Dantons Tod“ noch die „Frau des Poti- phar“, ein Schauspiel und eine Oper, ausgewählt, um das Österreich von heute zu vertreten, konnten sich auf dem Programm halten. Hier drängt eich die Frage auf: dieser Bedarf der Erneuerung, ist er ein Zeichen der Lebenskraft oder gar das Zeichen einer großen Lässigkeit, die ihren Namen nicht eingestehen will? Vielleicht beides.

„Jedermann“ ist sicher nicht ein Stück wie andere. Dieses „Mysterienspiel“ des modernen Zeitalters, von Hofmannsthal beim Anblick des Doms, der von der Burg überragt wird, ersonnen, ist geschaffen, um in diesem einmaligen Rahmen, eine weiße Marmorfassade im Barockstil des 17. Jahrhunderts, gespielt zu werden; mächtige Säulen scheinen den für einen Augenblick erschütterten, doch durch den Antrieb der Gegenreform stärker wiederauflebenden Glauben zu stützen und gegen den Himmel zu tragen; einige Statuen, vom Leben mitgenommen, bringen den Sinn und das Maß des Menschen in dieses Bild, das sich in die Unendlichkeit erhebt, während zur Rechten die Festung von der Höhe des Felsens herab die Macht der Erzbischöfe von Salzburg in Erinnerung bringt.

Diese Kirchenfürsten, Erbauer der Kathedrale und der bedeutendsten. Monumente, der Stadt, haben hier an dieser Stätte den Himmel der Erde näher gebracht und die Erde wiedererobert zum größten Ruhme des Himmels. Und ihr Schützling Mozart, den sie zu ihrem Kapellmeister machten — bis zum Tage, an dem sie sich mit ihm zerworfen haben —, hat nicht auch er hier hienieden himmlische Akkorde angeschlagen? Ist denn seine Musik nicht dieser flüchtige Ausblick auf den Himmel, der ein Privilegium von Salzburg und seiner Architektur zu sein scheint? Der Geist, der an dieser Stätte weht, wendet sich von der Erde nicht ab, er führt weiter als ihre vergängliche Pracht; er strahlt nicht Heroismus aus, er bringt nicht die Offenbarung der Größe, die jedem Asketismus und jedem Suchen nach dem Absoluten eigen ist, er gleitet dahin, leicht graziös und lächelnd, er ergötzt sich an dem Anblick dieser reizenden Erscheinungen, ohne dabei die einzigen übersinnlichen Wahrheiten zu vergessen, nach denen er strebt; das ist der) Geist der Gegenreform, der, ohne seinem Glauben Abbruch zu tun, es verstanden hat, Vorteil au9 allen sich bietenden Möglichkeiten zu ziehen, um das zurückzuerobern, was im 16. und 17. Jahrhundert verilorenging und sie alle zu einer großartigen katholischen Synthese verschmolzen hat, im weitläufigsten Sinne des Wortes.

Auch „Jedermann“ versinnbildlicht in bewunderungswürdiger Form den Geist, der im Leben zugleich die Schale und zugleich die große Szene eines einigermaßen mysteriösen Theaters sieht und der hinter der mondänen und glänzenden Fassade der irdischen Feste unmerklich die Seele gegen den Hintergrund, gegen die Kulissen und deren Kehrseite lenkt.

Das ist das Stück, das Hofmannsthal Österreich und speziell Salzburg zum Geschenk gemacht hat, dem Ort, der den Dichter inspirierte. Man kennt den berühmten Ausspruch, der dieser Schöpfung zugrunde liegt: eines Tages, auf dem Domplatz 6pazierengehend, erklärte er seinem Begleiter: „Dieser Platz zwingt, die Augen gegen den Himmel zu richten.“ Dieses Stück — dieses Mysterienspiel — ist unterstützt durch eine einzigartige Inszenierung; Reinhardt, der große Regisseur, hat es verstanden, das Bild an diesem inneren und übersinnlichen Geschehen teilnehmen zu lassen, die Kathedrale, das Schloß, die Orgel, die Glocken… ja selbst die Tauben der Kathedrale wurden mit herangezogen.

Und nun kehren wir zurück zur eingangs gestellten Frage. Sind wir nicht mehr naiv genug, um uns an diesem Schauspiel zu ergötzen, wie es das Volk im Mittelalter tat? Es bedürfte sicherlich viel mehr des Glaubens. Und, trotz alledem, welch bedrückende und andächtige Stimmung am Ende der Vorstellung. Das ist nicht dasselbe wie bei anderen Galavorstellungen, bei denen die Menge die letzten Toiletten und die luxuriösen amerikanischen Wagen mit Neugierde dahinziehen sieht. Jeder ist in sich selbst gekehrt. Morgen wird das tägliche Leben wieder beginnen, doch Salzburg wird mehr als eine Erinnerung bleiben, als der Ort, in dem man eine Emotion seltener Art erlebt hat, die das Theater von heute uns nicht mehr bieten kann.

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