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Salzburgs Jedermann-eine Neuinszenierung?

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Als im Festspielsommer 1946 Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“ in Max Reinhardts Inszenierung vor der unversehrten Domfront Salieris in alter Schönheit und Kraft wiedererstand, da begrüßten wir ihn alle nicht nur als ein Zeichen des wiedergekehrten Friedens nach sechs bitteren Kriegsjahren und neun Jahren einer künstlerischen Verirrung, die dieses gewaltige Spiel von Menschenglück und Menschenohnmacht aus dem Rahmen der Salzburger Festspiele verbannt hatte — wir fanden vor allem bestätigt, was wir in den Jahren vorher so schmerzvoll empfunden hatten: daß gerade' in diesem Spiel das eigentliche Herz der Salzburger Festspiele schlägt; ist es doch weit mehr als alle andern Festaufführungen einmalig und unnachahmlich dem „Genius loci“ verbunden und mit solcher Eindruckskraft eben nur auf dem Domplatz in Salzburg möglich mit der wundervollen Geschlossenheit und Monumentalität seiner Architektur. Darüber hinaus aber gibt der „Jedermann“ den Festspielen dijjp religiöse Note, die sie in dieser ehrwürdigen - geistlichen Metropole nun einmal haben müssen, wenn sie Charakter haben und nicht Konjunkturerscheinungen sein wollen, wie sie von Jahr zu Jahr in fremdenverkehrsbeflissenen Städten immer häufiger werden.

Es war zunächst ein Akt der Pietät gegen den verstorbenen großen Regisseur Max Reinhardt, daß man 1946 den „Jedermann“ mit peinlich getreuem Festhalten in der szenischen Form spielte, die der Schöpfer dieser Aufführung ihr seinerzeit gegeben hatte; es war aber auch ein Zeidien der Ehrfurcht vor der mit diesem geistlichen Volksschauspiel nun schon verbundenen Tradition. Die Mysterien des Mittelalters sind nun einmal aus der katholischen Liturgie erwachsen, und alles Liturgische atmet jenen überpersönlichen Geist, der den einzelnen, und sei er noch so schöpferisch und gestaltungsfreudig, zu maßvoller Zurückhaltung verpflichtet.

Es war also richtig, den „Jedermann“ zunächst in der alten und durch jahrzehntelangen Gebrauch geheiligten Form wiedererstehen zu lassen, und man sollte sich auch in Zukunft davor hüten, ihn zu einem Objekt für neuartige Regieeinfälle und interessante Inszenierungsversuche werden zu lassen.

Um so wichtiger ist eine andere grundsätzliche Erwägung. Sie geht nicht von der Form des Kunstwerks aus, sondern von der Dichtung und ihrer Idee und von dem in ihr verkörperten Glaubensgehalt. Sie stellt die Frage: Drückt die heutige Darstellungsform den gedanklichen Kern, den Wesensgehalt der Dichtung rein und ungeschmälert aus? Ist sie geeignet, als Botschaft und Ruf und nicht nur als schönes künstlerisches Erlebnis das Herz des Zuschauers zu treffen?

Diese Frage fordert zunächst eine zweite heraus: Ist die Dichtung Hofmannsthals wirklich, wie ihr mittelalterliches Vorbild, eine christliche „Predigt“ in dramatischer Form gewesen, eine Verkündigung ewiger Wahrheiten und ein Willensaufruf — oder war es nur der ergreifende menschliche Gehalt, der den hochbegabten und vielseitigen Dichter der Jahrhundertwende nach diesem Stoff greifen ließ wie nach so vielen andern? Des Dichters Lebensführung und sein Tod — er hat sich im Mönchskleide des dritten franziskanischen Ordens begraben lassen — geben eine klare Antwort auf diese Frage: ihm war es Ernsf mit der Überzeugung von der Nichtigkeit des Irdischen und dem Glauben an ein höheres Leben, dessen Pforte uns der Tod öffnet.

Es gilt also zu prüfen, ob die heutige Bühnengestalt des Salzburger „Jedermann“ dieses „Memento mori“ und diese Verheißung so ausspricht, wie sie in der Dichtung gemeint sind.

Der Gewalt des „Memento“ wird sich niemand entziehen können, der die Salzburger Aufführung gesehen hat. Mit verschwenderischer Liebe, aus einem schier unbegrenzten Einfallsreichtum schöpfend, hat Max Reinhardt die erste Hälfte des Dramas gestaltet: Lebenstüchtigkeit und Lebensfreude kommen in immer neuen Bildern, überreich an originellen Einzelzügen und in stetiger, gewaltiger Steigerung zum Ausdruck bis zu jener meisterhaften Tanz- und Bankettszene, die wie ein Rausch von Formen, Farben und Klängen die Schönheit des irdischen Lebens noch einmal aus geballter Kraft sich entfalten und doch schon die Brüchigkeit dieses Lustbaues sichtbar werden läßt. Und der Augenblick, wo der Tod „in grausiger Gestalt“ die verwirrende Bewegungsfülle in eisige Erstarrung verwandelt, die' sich nur löst, um den Schwärm der Freunde und Nutznießer in wilder Flucht auseinanderstieben zu lassen — diese Szene gehört zweifellos zum Eindrucksvollsten der neueren Theatergeschichte.

An eine Einzelheit sei hier erinnert. Der Beginn der nachmittägigen Aufführung ist so angesetzt, daß gerade bei dieser Szene die sinkende Sonne das Spielgerüst mit den bekränzten Tischen in die wachsenden Schatten der den Platz umsäumenden Bauten taucht. Nur die-oberen Stockwerke der Domfassade glänzen noch im Sonnenlicht; unten, um den vereinsamten Jedermann, webt schon die Abenddämmerung. Und dieser Zug des genialen Regisseurs, der sogar die Sonne zum Mitspielen zwingt, ist bezeichnend für seine Interpretation der Dichtung: sie wird nach dieser Szene zur Elegie, zu einer wehmütigen Klage, zur traurigen Resignation angesichts der Uner-bittlicffkeit des Menschenschicksals — und die Gestalten der guten Werke, des Glaubens und der Engel haben lediglich die Funktion einer trostreichen Stütze, an der der zusammengebrochene Jedermann sich doch soweit aufrichtet, um gefaßt und in würdiger Haltung in sein Grab hinabsteigen zu können.

Ein ergreifendes Lied von der Vergänglichkeit alles Irdischen — ist dies aber der wahre Sinn der Dichtung?

Ist die Dichtung nicht vielmehr ein Hoheslied von der Kraft des Überirdischen, das uns in der Todesstunde aus der Nichtigkeit des Erdendaseins in seine Sphären hinaufhebt und damit erst zum wahren Sein führt?

Helene Thimig spielt den „Glauben“ mit unnachahmlicher Hoheit und Anmut der Gebärde. In der Haltung einer trauernden Schwester gibt sie Jedermann das letzte Geleite, und wenn sie im Schlußbild an seinem Grabe steht in schmerzvoller Ver-sunkenheit, glaubt man die Mater dolorosa eines ganz großen Barpckbildhauers vor“ sich zu haben.

Ist das aber die Haltung des „Glaubens“, von dem nach den Worten des Textes eine solche Kraft ausstrahlen muß, daß sogar die bis dahin gelähmten „Werke“ sich vom Boden erheben und Jedermann zur Seite treten können? Diese „Fides“ ist ein Bote Gottes, ein überirdischer Kraftquell, der erste Strahl aus dem Jenseits, der Jedermann trifft; ihre Haltung muß ganz himmlische Hoheit sein; nichts Menschliches darf ihr anhaften. Sie mit menschlich-psychologischen Zügen, mit einem schwesterlichen Mitgefühl für den sterbenden Jedermann auszustatten, heißt ihr Wesen fälschen. Deshalb müßte schon bei ihrem Ersdieinen ein künstlerisches Ausdrucksmittel wirksam werden, das ihren transzendentalen Charakter deutlich werden läßt: die Musik, und zwar von diesem Augenblick der dramatisdien Handlung an unmittelbar und nicht nur als melodramatische „Kulisse“, als „Musik hinter der Szene“, sondern genau so, wie sie von Goethe im fünften Akt des Zweiten Teiles „Faust“, dort, wo das Göttliche in Erscheinung tritt, zu Hilfe gerufen wird, um das „Unzulängliche“ zum „Ereignis“ werden zu lassen.

Nur die Musik ist imstande, die zweite, wesentlichere Hälfte der dramatischen Handlung des „Jedermann“ von der Blässe, die ihr jetzt anhaftet, zu befreien und zu einem machtvollen Glaubensbekenntnis „in vitam aeternam“ umzugestalten, so wie es dem Dichter vorschwebte, als er die letzten Worte dem „Glauben“ in den Mund legte: „Wohl ihm, es ist an dem, daß ich der Engel Stimmen vernehm, wie sie in ihren himmlischen Reihn die arme Seele schließen ein.“ Warum hat der Regisseur nicht einmal die szenische Anweisung Hofmannsthals an dieser Stelle: „Engel singen“ befolgt? Er läßt nur die sechs prächtig gewandeten Engel, die stummen Zeugen der letzten Augenblicke von Jedermanns Leben, ebenso stumm, wie sie bisher waren, dem „Glauben“ in feierlichem Zuge in die Kirche folgen, aus der gedämpftes Orgelspiel tönt. Hier müßten alle Künste aufgerufen werden als Sprachen des Unsagbaren: die nun schon abenddunkle Domfront müßte in einem strahlenden Flutlicht aufleuchten und die Schönheit ihrer Architektur und Skulpturen erglänzen lassen und zum vielstimmigen Getön der Glocken und zum vollen (nicht gedämpften) Klang der großen Orgel müßten Händeische Hymnen erklingen — am besten sein herrlicher Choral: „Nicht Menschen vertraut den lastenden Schmerz, zum Himmel empor erhebet das Herz! Dort wohnet die Weisheit, die Güte, die Huld, dort wohnet die Gnade für unsere Schuld.“

Mit diesem vollen Durklang müßte der „Jedermann“ schließen, aber nicht mit dem elegischen Trauergeleit, das jetzt den Abschluß bildet. Dieser Kondukt • ist eine reine naturalistische Zutat. In der Diditung ist nicht die geringste derartige Andeutung zu finden. Sie ist nur zu erklären durch die diesseitige Einstellung und die weltlich-heitere Gestaltungsfreude des Regisseurs, der eben den bunten Sdiwarm der Gesellen und Nutznießer Jedermanns noch einmal auf die Bühne bringen wollte. „Unbekümmert geht das Leben weiter“, das zeigt uns das letzte Bild, denn gleich hinter der ehrwürdigen Mutter Jedermanns, die noch einmal Mitgefühl zu erregen vermag, folgt dem (fingierten) Sarg die gar nicht trauernde „Buhlschaft“, die „mit Augein schon dem Nachbar sich verbindet“. Das ist kein Ausklang für ein Kunstwerk,das eine transzendentale Deutung des Menschenlebens sein will! Das ist entweder eine Konzession an das Publikum oder ein Zeugnis für das Verhaftetsein des Regisseurs im Geiste einer Zeit, die zwar die Schauer des Todes, aber nicht mehr seine Überwindung kannte. Die apokalyptischen Erlebnisse der beiden Weltkriege aber haben die Menschheit aus ihrer naiven Daseinsfreude zutiefst herausgesdi reckt, und sie ist für ernste Auseinandersetzungen über Sinn und Ziel des Menschenlebens aufgeschlossener denn je. Kein Zweifel, daß Max Reinhardt, lebte er noch, diese gänzlich andre geistige Situation von heute zutiefst erfühlt und selbst seinem „Jedermann' d i e Darstellungsform gegeben hätte, die er heute braucht.

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