Sarmatische Sehnsüchte

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Die reale und imaginäre Topographie eines Landes - und warum es nicht dort liegt, wo es Barbara Coudenhove-Kalergi in der "Presse" gesucht hat.

Wer oder was ist Sarmatien? Und wo liegt es?" hat Barbara Coudenhove-Kalergi kürzlich im Spectrum der Presse gefragt. Und mitgeteilt, sie sei dem Wort erstmals im Warschauer Nationalmuseum beim Betrachten der Porträts polnischer Adeliger in "sarmatischer" Tracht begegnet. Hätte sie diese Spur weiterverfolgt, könnte sie erklären, warum Martin Pollack in seinem aufregend vielfältigen und aktuellen Sammelband "Sarmatische Landschaften" Beiträge ausgerechnet aus Litauen, Belarus, der Ukraine und Polen (mit deutschen Rexlexionen) versammelt. Warum sind Lettland und Estland nicht mit dabei? Wie kommt Polen in diese Gesellschaft ehemaliger Sowjetrepubliken? Die Logik dieser Auswahl findet man nur, wenn man das Polnisch-Litauische Großfürstentum in den Blick nimmt und es nicht unbesehen nur für die polnische Vergangenheit in Anspruch nimmt - wie dies in Polen gelegentlich geschieht, im Krakauer Wawel zum Beispiel.

Urprünge "Sarmatiens" ...

Der polnisch-litauische Doppelstaat, der mit der Union von Lublin 1569 begann und mit der bekannten dritten polnischen Teilung 1795 zu Ende ging, war eines der interessantesten Staatengebilde der frühen Neuzeit: Eine "demokratische" Adelsrepublik, die nie ein zentralistisches Reich geworden und in ihrer religiösen Toleranz am ehesten mit Siebenbürgen vergleichbar ist. Der Adel dieses Großfürstentums hat seine Herkunft auf das antike Volk der Sarmaten projiziert und sich so gleichzeitig gegen Russland, vor allem aber gegen Westeuropa abgegrenzt. Als dort die Konfessionskriege tobten und die Byzantinische Zivilisation gerade noch überlegen war, hat man sich damit auch einen Schuss Orient verpasst. Das "Dazwischen", die Abgrenzung gegen Russland wie gegen Deutschland, ist noch immer charakteristisch für diesen Raum, durch den seit 1984 die Schengengrenze verläuft.

Polen konstruiert aus dem Großfürstentum seine nationale Vergangenheit und hat immer wieder auf das "Sarmatentum" zurückgegriffen: Für Adam Mickiewicz wie später für Henryk Sienkiewicz war es eine wichtige Projektionsfläche, breitenwirksam in ihren Generationen; Witold Gombrowicz hat dieses Sarmatentum bissig ironisiert. Auch für das litauische Selbstverständnis ist die Vergangenheit des Großfürstentums bis heute konstitutiv - wenn auch mit etwas anderen Interpretationen als in Polen. Da das Weißrussische im Großfürstentum Amtssprache war, ist es auch für Belarus einer der wenigen Anker seiner fragilen Identität. Negativ wird diese Vergangenheit nur in der Ukraine empfunden: Hier sind die Kosaken mit ihrem antipolnischen Aufstand Identifikationsfiguren - bis hinein in die Orangene Revolution im November 2004, wie der grandiose Schlussessay von Oxana Sabuschko deutlich macht.

... und heutige Bedeutung

All das erfährt man gleichsam nebenbei aus Pollacks einzigartigem Band. Denn hier kommen nicht Historiker zu Wort, sondern jüngere Schriftstellerinnen und Schriftsteller (sie sind alle nach 1950 geboren). Sie wollen ihre Gegenwart deuten. Sichtbar wird dabei ein Raum, der - bis in die Gegenwart spürbar - von Fremdherrschaften und grausamen Kämpfen verwüstet wurde, aber auch von Erfahrungen polyethischen Zusammenlebens, auf die das übrige Europa nur zu seinem großen Nachteil verzichten kann. Auffällig oft greifen die Schriftsteller auf Familiengeschichten zurück, um diese Verflechtungen darzustellen: auf fremde oder auf die eigene wie zum Beispiel die Litauer Sigitas Parulskis und Marius IvasÇkevicÇius. IvasÇkevicÇius verfolgt die Spuren seiner Herkunft in Weißrussland und kommt dabei zu einer interessanten Außensicht eines Landes, das ihm fremd bleibt. Parulskis beschreibt in seiner "Kindlichen Sarmatien-Enzyklopädie" die eigenen Erfahrungen mit allen in diesem Buch verhandelten Ländern - vor allem auch mit Deutschland als Soldat der Roten Armee.

Noch in anderer Hinsicht ist es tragisch, wenn Barbara Coudenhove-Kalergi auf einer Literaturseite beim Begriff "Sarmatien" nur an das Warschauer Nationalmuseum denkt. Ist ihr Johannes Bobrowskis erster Gedichtband "Sarmatische Zeit" nie untergekommen und sein Sarmatien-Konzept ganz an ihr vorüber gegangen? Pollack beginnt sein Vorwort mit Bobrowski, der einmal erklärt hat: "Unter Sarmatien verstehe ich nach Ptolemäus das Gebiet zwischen Schwarzem Meer und Ostsee. Zwischen der Weichsel und der Linie Don - Mittlere Wolga. Ein Gebiet, aus dem ich stamme und in dem ich herumgekommen bin." Für Bobrowski diente dieser Rückgriff dazu, die Schuld zu thematisieren, die Deutschland in diesem Raum auf sich geladen hat, und nur wenn man das weiß, ist klar, warum Martin Pollack für seinen Band auch Beiträge aus Deutschland gesucht hat.

Zwischen Ost und West

Keine Rezension kann die vielfältigen Perspektiven von Pollacks "Sarmatischen Landschaften" resümieren, und sie will ja auch nicht suggerieren, man könne sich durch solche Informationen die Lektüre ersparen. Auch wer sich jahrelang mit diesem Raum beschäftigt, wird dabei feststellen, wie wenig er zumindest von der Ukraine und von Weißrussland bisher verstanden hat.

Die entscheidende Frage ist, was uns das vormoderne Polnisch-Litauische Großfürstentum mit seiner Sarmatien-Projektion in nachmodernen Zeiten zu sagen hat und ob eu-Mitgliedschaft eine nivellierende Angleichung an die "westliche" Lebensart sein muss oder welche Ressourcen in der alten Position des "Dazwischen" noch stecken. Wer Sarmatien den Trachten alter polnischer Adeliger überlässt, verzichtet auf diese essentiellen Fragen.

sarmatische landschaften

Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland.

Herausgegeben von Martin Pollack.

S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2006,

361 Seiten, geb., e 28,80

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