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Scesaplana und ihre Erstbesteiger

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Scesaplana! Mächtig und breit hingelagert und fast bis zu dreitausend Meter Höhe aufragend, türmt sich zwischen Gam-perdona- und Brandnertal der Kulminationspunkt des Rhätikons, als gewaltiger Grenzstein zwischen Vorarlberg und der Schweiz, gegen den Himmel. Welch überwältigende Kulisse bieten die Südwände des Berges von Grüsch oder Seewies im Prätigau aus, wenn die Strahlen der sinkenden Sonne die Kalkmauern mit brennendem Rot überziehen. Wie verlockend leuchtet der ebenmäßige Dreikant des Gipfelbaues im Frühsommer, gleißend geschmückt noch mit dem Brautkleid des Winters, vom Verajoch aus gesehen. Am unvergleichlichsten aber sind die Westabstürze, der Panüler Schrofen, vom Nenziger Himmel. Diese Flucht von nackten Gesteinsmassen, die sich zu schwindelnder Höhe aufbauen, sucht in den Alpen ihresgleichen. Beherrschend, keinen Rivalen in ihrer Nähe duldend, ihre Schultern mit dem Hermelin des Brandner Ferners geziert, hebt die Königin Scesaplana ihr schlankes Haupt in den Himmel, oftmals ihr Antlitz durch einen Nebelschleier den Blicken der Menschen entzogen, nicht mehr trennende Grenze zwischen den Völkern, sondern gemeinsames Ziel des nach der Höhe, nach Licht und Freiheit strebenden Menschengeistes.

Scesaplana! Melodisdies Wort, geboren aus den ersten Zeiten unserer heimatlichen sprachlichen Bildung. Name des Berges, dessen Geschichte in den duftigen und farbenprächtigen Gefilden der Volkssage Wurzel geschlagen hat. Sie, die Sage, vermittelt uns auch den ersten Namen eines Besuchers unseres Berges, der — wenn er auch den Gipfel kaum betreten haben wird — doch kein Geringerer als unser Herr selber war. Er wanderte damals, als Bettler verkleidet, über die blumenprächtigen und vom Herdengeläute des weidenden Viehes durchtönten Wiesenhänge des Scesaplana-plateaus, die heute der eisige Mantel des Brandner Ferners deckt, zu jener Zeit aber eine reiche Alpe beherbergten. Die Sennen und Hirten jedoch, die dort lebten, waren hartherzige Menschen. Sie wiesen den Bettler, der um ein wenig Schmalz bat, von ihren Türen; ja, nicht genug, sie trieben sogar noch ihren Spott mit ihm. Da beschloß der Herr in seinem gerechten Zorne, die Menschen, die seiner spotteten, zu strafen und er sandte ein furchtbares Unwetter. Der Himmel verfinsterte sich, Blitze zuckten aus den Wolken und ein Schnee- und Eissturm ging über den Berg hinweg, daß von dem Tosen die Häuser im Tal erzitterten. Als das schaurige Wetter sich verzogen hatte, da war die blumige Alpe mit ihren Menschen und Tieren verschwunden und an ihrer Stelle dehnt sich bis auf den heutigen Tag eine weite Fläche von ewigem Firn. — Damit schließt der erste, sagenhafte Teil der Geschichte des Berges, die darauf für lange Zeit gänzlich aus dem Bewußtsein der Menschen verschwand, um in den letzten zwei Jahrhunderten mit fast noch gesteigerter Dramatik wieder hervorzubrechen.

Scesaplana! Dieser Name verknüpft sich mit der ersten Bergfahrtenschilderung der Ostalpen in deutscher Sprache. Der Berg wird wieder zum Markstein, diesmal allerdings in der alpinen Literatur. „Einfalte Delineation aller Gemeinden gemeiner drei Bündten vom Jahre 1742“ heißt die Schrift des Pfarrers Nikolaus Sererhard aus Seewies im Prätigau, in der der Autor die Beschreibung seiner Bergreise auf die Scesaplana — nebenbei bemerkt, eine der ersten Besteigungen eines bedeutenden Ostalpengipfels überhaupt — niedergelegt hat. Die Schrift ist 1871 von C. von Moor in Chur herausgegeben und die Scesaplanatour darin, wegen der echten Bergfreude, die aus dem ergötzlichen Bericht spricht, heute noch köstlich zu lesen. Leider hat der Verfasser in seinen Ausführungen das Datum der Fahrt nicht angegeben, doch muß es um das Jahr 1740 herum gewesen sein, daß der unternehmungslustige Schweizer Seelenhirte sich, entgegen allen Warnungen; die samt und sonders der Fahrt kein gutes Ende voraussagten, mit zwei Begleitern — einem alten Gemsjäger und dem Badwirt von Ganey — von Seewies aus auf den Weg machte. Die erste Etappe führte auf die Alpe Fasons, wo die drei nächtigten, und am andern Tage über das „Schafloch“ und den Gletscher die höchste Spitze des Berges erreichten. Sererhard ist also der „geschichtliche“ Erstersteiger der Scesaplana. Er gibt nun in seinem Bericht eine trotz aller Übertreibungen ausgezeichnete Schilderung der Rundsicht, wobei er auch die kleinsten Details nicht unbemerkt läßt. Was aber dann folgte, ist das Verblüffendste an dieser kühnen Alpenfahrt: die drei gehen nicht den Weg, auf dem sie gekommen, wieder zurück, sondern überschreiten den Berg und steigen über die „Tote Alp“ zum Lünersee hinab. Dabei läßt die Unbedenklichkeit, mit der dies geschieht, fast den Verdacht aufkommen, als wäre die örtlichkeit dem einen oder andern der Begleiter Sererhards nicht ganz unbekannt gewesen. Allein auch dies könnte das Verdienst des tapferen und unternehmenden Mannes in keiner Weise schmälern, wie ja die Prätigauer Pfarrherren sich auch späterhin an der Erschließung des Rhätikons in rühmlicher Weise beteiligten.

Auch die zweite bekannte Ersteigung der Sceseplana —• diesmal von der Vorarlberger Seite — fällt noch in das 18. Jahrhundert. Der Jäger Josef Sugg aus Brand führte 1790 den Baron von Sternbach von Bludenz über den „Bösen Tritt“ und die „Tote Alp“ auf den Gipfel.

Das nächste Säkulum bringt dann schon lebhafteren Betrieb und sieht alle bedeutenderen Alpinisten der damaligen Zeit auf dem Scheitel der Königin des Rhätikons.

Alle diese Besteigungen wurden über die beiden bis dahin bekannten Wege, über das „Schafloch“ oder die „Tote Alp“, ausgeführt. In der Folge wurde dies aber langweilig und es regte sich der Wunsch nach einer neuen Anstiegsmöglichkeit. Um diese Zeit — 1848 — lebte in Bludenz die ob ihrer Natur- und Bergfreude bekannte Familie Neyer. Ein Mitglied derselben, Balthasar N e y e r, hatte von Brand über die Alpe Oberzalim einen neuen Weg auf den Gletscher ausfindig gemacht und zog nun mit einer ganzen Gesellschaft aus, um auf diesem neuen Anstieg die Spitze zu gewinnen. In dieser Phase nimmt nun die Er- ichließungsgeschichte der Scesaplana eine geradezu romanhafte Dramatik an. Eiö Bruder des Balthasar, der von dessen Plan wußte, zog ebenfalls mit einer Gesellschaft, worunter sich auch zwei Schwestern von ihm befanden, heimlich aus, um dem Bruder zuvorzukommen. Diese Partie verstieg sich jedoch in den schwer gangbaren Wänden, über die heute der Leiberweg führt, und mußte von dem nachkommenden Balthasar und seinen Leuten gerettet werden, der nun alle auf dem erkundeten Weg durch die Wand und auf den Gletscher führte. Beim Überschreiten desselben stürzte Balthasar Neyer in eine Spalte und konnte von seinen Begleitern nur mühsam geborgen werden. Dieses neuerliche Mißgeschick bedrückte alle derart, daß sie die Spitze links liegen ließen und arg niedergeschlagen vom Gletscher schnurstracks zum See abstiegen. Trotzdem hatte Balthasar Neyer an diesem 16. September 1849 den heute am häufigsten begangenen Weg am Berg, die Überschreitung von West nach Ost, eröffnet.

Die erste Ersteigung derSpesaplana direkt von Westen her, aus deniJenziger Himmel über die nördlichen Ausläufer des Panüler Schrofens, etwa auf der Führe des heutigen Straußweges, führte J. V o 11 a n d aus Feldkirch aus. Ebenfalls von Westen, aber über den südlichen Teil der gewaltigen Wände des Panüler Schrofens vom Solaruel-joch her, eröffnte in den achtziger Jahren der Pfarrer Batlogg aus Gurtis einen neuen Anstieg.

Scesaplana! Einzigartige Warte unendlicher Schau! Fast vermag das Auge die uferlose Weite des Horizontes nicht zu ertragen. Es ist ein wahrhaft einzigartiger Schaukreis: „Trinket, Augen, was die Wimper hält von dem goldnen Überfluß der Welt!“

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