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Schattenboxen in den Griiften

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Konrad Low fahrt schwerstes Geschiitz gegen Karl Marx auf. FaBt in seinem Buch „Der Mythos Marx und seine Macher" fast alles zusammen, was je gegen Marx und den Marxismus gesagt wurde und fiigt noch einiges hinzu. Baumt Marx bis in den Intimbereich ab, laBt nichts gelten, fiihrt einen vernichten-den Bundumschlag gegen den Theoretiker, den Politiker, den Menschen. Dabei ist der Marxismus als Alternative zur Marktwirtschaft mausetot. Dadurch wirkt das Buch inaktuell.

Low wiitet gegen Marx und Marxismus, als wiirden sie noch die Welt bedrohen, und er tut es mit groBer Emotionalitat. Die Griindlichkeit, mit der er sein HaBobjekt schlecht macht, schlagt oft geradezu ins Lacherliche um. Etwa, wenn er die Behauptung, Marx habe seinen Vater geliebt, mit einem Brief zu widerle-gen sucht, in dem Marx von seiner Le-berentziindung berichtet und schreibt: „Das ist erblich in meiner Familie. Mein Alter ist dran gestor-ben." Denn „der Alte" sei eine re-spektlose Bemerkung, „zumal wenn vom Sterben die Rede ist".

Nicht ohne Komik sind auch Lows Argumente dafiir, daB der von Marx fertiggestellte und veroffentlichte Teil von „Das Kapital" - Band 1 -„keine relle Chance hatte, an einer deutschen Universitat als Dissertation angenommen zu werden — den Wissensstand des Jahres 1867 und eine ideologiefreie Sachbehandlung vorausgesetzt". Denn so manches, Was heute als der okonomischen Weisheit letzter SchluB gilt, erweist sich bei naherer Betrachtung eben-falls als von Ideologic durchtrankt, und fast alle methodischen Fehler, die Low - durchaus mit Recht! - bei Marx registriert, finden sich auch bei anderen GroBen der Nationalokono-mie, vom Ignorieren zentraler Fragen bis zum AuBerachtlassen anderer moglicher Erklarungen, von den in-neren Widerspriichen bis zur ganz be-sonders beliebten Methode, „schlich-te Behauptungen an die Stelle von Be-weisen" treten zu lassen.

Es ist kein Zufall, daB sie besonders haufig gerade in der Auseinanderset-

zung mit Marx begangen wurden. Der Versuch, dessen Theorien in die Praxis umzusetzen, iiberschattete schlieBlich das Zwanzigste Jahrhun-dert, weshalb ihm als nunmehr histo-rischem Phanomen eine andere Be-handlung gebiihrt als jene, die ihm Konrad Low angedeihen laBt. Die Widerlegbarkeit seiner Theorien an-dert daran nichts, die hat er mit vie-len gemeinsam.

Ludwig von Mises, einer der Oko-nomen der Wiener Schule der Natio-nalokonomie, wies mit groBer analyti-scher Scharfe nach, daB Planwirt-schaft- diedamalsimMittelpunktder sozialistischen Theorie stand - nicht funktionieren konne. Womit wir an dem Punkt angelangt waren, an dem Lows Buch symptomatisch und damit interessant zu werden beginnt.

Die Vorgangsweise Mises ist ty-pisch fur die vieler, von Carl Menger bis Friedrich August von Hayek: Sie alle hatten recht mit fast allem, was sie gegen den Marxismus ins Treffen fuhrten. Hingegen wurde die Position, von der aus sie gegen den Marxismus argumentierten, kaum hinter-fragt. So lieB Mises, als er mit groBter Sorgfalt nachwies, daB eine Planwirt-schaft nicht funktionieren kann, eventuelle Entwicklungs- und Anpas-sungsmoglichkeiten des sozialistischen Systems (zum Beispiel in Bich-tung Marktwirtschaft) auBer acht und behandelte damit ftm den Sozialismus genauso, wie Marx den Kapita-lismus behandelt hatte: Als starres, nicht veranderba-res System. Als

solches hatte aber der Kapitalismus ebensowenig iiberleben konnen, wie es das jede Anpassung an die Wirk-lichkeit verweigernde „realsozialisti-sche" System konnte.

Das eine entwickelte sich weiter und iiberlebte, das andere nicht. Wer aber heute mit einem neuen Anlauf zur Verwirklichung marxistischer Ideen liebaugelt, muB mit der Gefahr rechnen, daB der Zug wieder ins alte Geleise springt. Einmal gentigt. Das wissen langst in alien Demokratien die Wahler. Dazu bedarf es keiner weiteren Marx-Demontage, wie sie

Low liefert. Was hingegen dringend nbtig ist: festzustellen, wieviel uns das kapitalistische System von dem, was es uns in der Schonheitskonkurrenz mit den ostlichen Despotien zukom-men lieB, wie lange noch weiterhin bieten kann, und unter welchen Um-standen dies moglich ist.

Man kann namlich durchaus zu dem SchluB kommen, und viele sind der Meinung, daB der real existieren-de Nichtsozialismus im Osten Europas zwar eine Katastrophe fur die dort Le-benden war (der Autor des Vorworts, Karl Wilhelm Fricke, weiB genau, wovon er spricht, er saB in der DDR im Gefangnis). DaB aber die bloBe Existenz dieses Systems mit all seiner Unmenschlichkeit, von der hier kein Toter wegretuschiert werden soli, ftir die Menschen im Westen sehr wohl auch mit konkreten Vorteilen ver-bunden war.

Denn was immer man davon hielt, es handelte sich um ein konkurrie-rendes System, welches lange Zeit viele Menschen im Westen faszinier-te. Es bedeutete daher fur den Kapitalismus (wie immer wir ihn definie-ren und ob wir uns mit diesem Begriff identifizieren oder nicht) die Heraus-forderung, seine Uberlegenheit unab-lassig unter Beweis zu stellen. Sie wurde nicht nur mit einer quantitativ und qualitativ uberlegenen Guterproduk-tion beantwortet, sondern auch, in-dem der Kapitalismus den Menschen mehr Kaufkraft, mehr Freiziigigkeit, die im Osten iiberhaupt nicht vorhandene mehr sonstige Bechtssicherheit,

Meinungsfreiheit, Freiheiten, mehr mehr Geld im Alter und mehr soziale Sicherheit bot. Das Fehlen von Ar-beitslosigkeit und das Vorhandensein von mehr Kindergarten zahlten zum Wenigen, womit die DDR gegeniiber Westdeutschland prunken konnte.

Heute scheint es aber vielen Menschen eine Illusion, zu meinen, all diese Vorteile seien, auch ohne Konkur-renzsystem, Wesensmerkmale eines funktionierenden Kapitalismus'. Denn mit unerhorter Fixigkeit wird heute allzuviel von dem, womit der Kapitalismus gegeniiber den Kom-mandowirtschaften prunkte, zum Lu-xus erklart, den wir uns nicht mehr leisten konnen. Fast hat es den An-schein: Ein Konzern, der durch den Konkurs seines einzigen Konkurren-ten zum Monopolisten geworden ist, streicht seine Werbeausgaben.

Der Ausbau der sozialen Sicherheit in Europa korrelierte mit der geogra-phischen Nahe des Ostblocks. Nicht von ungefahr wird uns von mancher Seite das rudimentare amerikanische Sozialsystem als genau das schmack-haft gemacht, was gerade noch geht. Der Zynismus, mit dem das geschieht, wird vor allem „von denen da unten" empfunden, jenen, welche die groBte Last tragen und nichts zu reden haben oder ihre Lage zumindest so sehen.

Konrad Low riickt ganz schon scharf dem Mythos des Marxismus zuleibe. Er weist (nicht als erster) nach, daB Marx sowenig wie irgend-ein Sterblicher vor oder nach ihm die Zukunft vorauszusehen vermochte und welche AnmaBung dieser An-spruch bedeutete und selbstverstand-lich hat er, mit Kolakowski, den er zi-tiert, auch damit recht, daB der Marxismus nicht nur die Zukunft der Welt nicht vorauszusagen, sondern auch keine jemals gegenwartige Welt, auBer punktuell, zu erklaren vermochte. Marxens Anspruch, beides zu konnen, war freilich einer ganz aus dem Geiste seiner Zeit.

Doch nachdem der Kapitalismus die begraben hat, die ihn begraben wollten, und die ideologische Kon-kurrenz dahin ist, ist eine bange Frage fallig: Der Marxismus ist tot. Aber ist deswegen der Kapitalismus in seiner heutigen Form, trotz aller Anpas-sungsleistungen, die er in den letzten hundert Jahren vollbrachte, weiterhin ein tragfahiges System?

Im Riickblick auf feme Zeiten ist es immer leicht, das Gemeinsame de-rer zu erkennen, die um hoher Werte willen aufeinander eindroschen. Eines Tages wird vielleicht auch leich-ter als heute zu erkennen sein, daB, einmal ganz abgesehen von stalinisti-schen Blutbadern, der utopische Cha-rakter des auf dem Papier so wunder-schonen Marxschen Projekts die starkste Wurzel des ganzen Grauens war. Das Ziel war verlockend, doch fern, und da der Weg entbehrungs-reich war, muBten die Menschen vor-angepeitscht werden, wobei sich das Ziel immer weiter entfernte.

Auch der Kapitalismus will das groBtmogliche Gliick fiir die groBt-mogliche Zahl, die Mittel sind den marxistischen diametral entgegenge-setzt. An die Stelle der Diktatur tritt, daB jeder alles an sich raffen darf, was er erwischen kann. Fiir die weniger guten Raffer ist auch das ein steiniger Weg, aber was alle am Ziel erwartet, ist angeblich genauso schon wie Marxens „Jedem nach seinen Bediirfnis-sen". Schaut man auf Arbeitslosen-zahlen und Sparpakete, scheint sich auch dieses Ziel zu entfernen, schaut man nach Afrika und Lateinamerika, rast es davon wie der Band des Uni-versums.

Marx haben wir begraben, aber nach wie vor vernachlassigen und op-fern wir im Hinblick auf ein femes Ziel das Schicksal heute lebender Menschen. Der Weg, auf dem heute Millionen arbeitslos werden und in der Dritten Welt Millionen zugrun-degehen, heiBt Deregulierung und Globalisierung, das Ziel weltweiter

Wohlstand. Gemeinsames Wesens-merkmal beider Systeme, des Kom-munismus' wie des Kapitalismus' neo-liberaler Spielart, ist die Bereitschaft, die heutige, uns sehr nahe Not vieler Menschen Fernzielen zuliebe, die er-reicht werden konnen oder auch nicht, hinzunehmen.

Natiirlich geht es uns ungleich bes-ser als den Menschen in der alten So-wjetunion, DDR und so fort. Aber konnen das auch die Afrikaner und Lateinamerikaner sagen? Der wich-tigste Einwand gegen Lows Buch iiber den Marx-Mythos: Es ist leicht, den Balken im Auge des toten Marxismus' zu erkennen, aber schwer, etwas gegen die Splitter im Auge des le-benden Kapitalismus' zu tun, die uns noch sehr gefahrlich werden konnen. Das Schattenboxen mit dem Staub in den Griiften ist dabei nicht hilfreich.

Low schreibt, daB es darauf an-kommt, „eine Massenbewegung wie die NSDAP, die KPdSU oder SED zu verhindern, tunlichst in der Anfangs-phase zu bekampfen", und er hat damit vollig recht. Wir miissen aber be-denken, daB zwar Hitler von der Zu-stimmung breiter Schichten empor-geschwemmt wurde (obwohl er nie-mals in einer freien Wahl die absolute Mehrheit errang), daB aber die Macht der Kommunisten iiber sehr viel breitere Schichten einfach her-einbrach. Die NSDAP wurde in Deutschland und Osterreich je einmal in freien Wahlen starkste Partei, die kommunistische nirgends in ihrem Herrschaftsgebiet.

Gefahrliche Ideen konnen sich auch anders als demokratisch durch-setzen. Auch okonomische 1'heorien sind gefahrliche Ideen, wenn sie Mas-senelend schaffen und damit die Men -schen verfuhrbar machen.

DER MYTHOS MARX UND SEINE MACHER

Wie aus Geschichten GescHichle wird. Von Konrad Low. Verlag Langen Mdl-lei; Munchen 1996. 480Seiten, 71 Abbil-dungen und Dokumente, geb., dS 517,-.

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