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Schicksalsprobe

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Die Mitternachtswende des Silvestertage vermag, wenngleich ihr nicht mehr als die Bedeutung einer scheinbaren Zäsur im Fluß der historischen Ereignisse zukommt, immer wieder den Atem der Welt für den Moment im Bann zu halten. Ihr als einzigen Augenblick im Jahreskreis der Sonne ist die geheimnisvolle Kraft zu eigen, Vergangenheit und Zukunft in des Menschen Herz zu inem sonst kaum empfundenen Gegenwartserleben von Schicksal und Sendung zu vereinen. Altes wird lebendig und Künftiges geschaut. Für eine Sekunde lang löst sich der Mensch aus der Zeit- und Raum-bedingtheit seines Daseins und übersieht gleichsam aus der Höhe den Weg seines Lebens vom Ursprung bis in seine ferne Verdämmerung. Was war und was sein wird, steht plötzlich wie die Wucht eines vom nächtlichen Blitz erleuchteten Berges als Urteil und Auftrag vor ihm. Je nach dem Anteil der aus der Erinnerung auftauchenden hellen und dunklen Momente herrschen als Grundton der Empfindung Reue oder Genugtuung, Zuversicht oder Pessimismus vor.

Das abgelaufen Jahr, im Zauberspiegel der Jahreswende betrachtet, läßt alle charakteristischen Züge wiedererkennen, die sich im Einzelschicksal und in der Schicksals-gemeinschaft der Menschen vorfinden. Es brachte Leid und Freud in bunter Folge. Wem es gelang, selbst mit dem Glück einigermaßen friedlich auszukommen, dem mag das vergangene Jahr nicht gerade als eines der schlechtesten erscheinen.

So betrachtet, mag es auch stimmen. Anders aber, wenn man das Jahr als Glied in der Reihe seiner Vorgänger sieht und untersucht, in wejeher Weise es den übernommenen Entwicklungen gerecht zu werden vermochte. Die Krise der m e n s c h 1 i c h e n“ B e z i e h u n g e n ist deutlich das Merkmal unserer ganzen Epoche geworden. Dabei kommt dem sozialen Niveau längst nicht jene Bedeutung zu, die ihm vom doktrinären Marxismus unterschoben wird. Dies geht allein schon daraus hervor, daß die Symptomatik gesellschaftlicher Zerrüttung heute nahezu alle Klassen gleichmäßig kennzeichnet. Nach Bedarf wird die Berufsund Standesehre, das Rang- und Klassenbewußtsein vorgeschützt, um den Brückenbau von Mensch zu Mensch zu verhindern. So viel Ehre gibt es in der Welt und so wehig Liebe. Liebe ist heute ein vom Skeptizismus der Zeit zersetzter Begriff, der gerade noch in den Köpfen einiger Romantiker seinen Glanz behielt, sonst aber fast nur mehr als Synonym für Sexualität gehalten wird. Die Aufgaben der Liebe sind Geschäfte des Staates geworden, der jene, welche die lebendige Beziehung zur Gemeinschaft verloren haben, dafür nach dem Iursorgetarif entschädigt.

Damit soll nichts gegen die öffentliche Fürsorge gesagt, sondern nur die Gesinnung gekennzeichnet sein, die in der Sozialauffassung der Gegenwart bestimmend geworden ist. Das Bewußtsein der persönlichen Mitverantwortung am Schicksal des Nächsten schwindet dahin. An seine Stelle tritt die Anschauung vom Recht auf unbeschränkte Individualität, der der Nächste in dem Moment zur Last wird, wo er ihr nicht mehr von Nutzen sein kann. Der Unterschied dieser Utilitäts-„Moral“ vom Standpunkt offener Menschenverachtung ist nur mehr ein gradueller. Die Ursache einer solchen destruktiven Sozialgesinnung muß zutiefst in der Abkehr des Menschen vom lebendigen Urgrund alles Seienden und von der persönlichen Verpflichtung an ein objektives Gesetz der Gerechtigkeit und Liebe erblickt werden. Sie ist also durch die geistesgcchichtliche Entwicklung bedingt und steht insoferne in keinem Zusammenhang mit den Tagesereignissen. Zum Teil wird sie aber doch auch zeitgeschichtlich verursacht und ist in dieser B#ziehung gerade am Jahresbeginn einer besonderen Überlegung wert.

In diesem Zusammenhang muß auf die Gefahren hingewiesen werden, welche die mißbräuchliche oder . unrichtige Handhabung demokratischer Prinzipien für das soziale Gefüge einer Nation und damit für die Demokratie selbst bedeutet. Trotz zahlreichen Untersuchungen und Vergleichen, die in der gegenwärtigen demokratischen Ära über die Fehler der Volksregicrungen nach dem ersten Weltkrieg angestellt wurden, scheint noch immer nicht hinreichend Klarheit über die Voraussetzung des Erfolgs der demokratischen Staatsform zu bestehen. Eine der hier in Frage stehenden Gefahren ist in der Art der Bildung der öffentlichen Meinung, insbesondere der Auffassung über den Anspruch auf materielle Güter gelegen. Die Propagandamaschinen der Parteien überbieten sich darin, dem Volke das Anrecht auf immer größeren Wohlstand einzuimpfen, unbekümmert, ob die Möglichkeit einer Realisierung vorhanden ist oder nicht. Die Folgen dieser seit Jahrzehnten auf die Massen einwirkenden Suggestion sind ungeheuer und offenbaren sich in einer exzessiven Steigerung des Lebenshungers, in einer förmlichen Gier, das Leben bis zur Neige auszuschöpfen. Das Streben der Massen ist weniger auf die Sicherstellung der grundlegenden Lebensbedürfnisse der Kleidung, Nahrung und Wohnung, als auf den Genuß, nicht auf eine Erfüllung der geistig-seelischen Anlagen, sondern auf das betäubende Vergnügen, auf Abwechslung und Sensation gerichtet. Der dauernde Weckruf der aufs primitive Ausleben gerichteten Instinkte durch die verschiedensten Methoden der Propaganda vertieft naturgemäß auch alle egozentrischen Anlagen und verdirbt die Regungen der Opferbereitschaft und Hingabe an den Nächsten.

Eine zweite Gefahr ist der Mangel an Mut zur Wahrheit und Offenheit. Die Wahrheit geht oft wie der schwarze Peter durch die Runde, einer schiebt sie dem andern zu, bis sie zum letztn kommt, der keinen Anschluß mehr findet und wohl oder übel Farbe bekennen muß. Die Ursache ist die gleiche wie bei der propagandistischen Großsprecherei, nämlich der Wunsch, ich selbst gegenüber jedermann in ein angenehmes Licht zu setzen. Deshalb läßt man einen Bittsteller oder Bewerber zehnmal umsonst vorsprechen, weil man sich nicht traut, ihm einmal die Wahrheit zu sagen, sei es, daß kein Platz frei ist, daß man ihn für untauglich hält oder daß er nicht das richtige Parteibuch hat. Deshalb vertröstet man Standesvertreter, die im Namen ihrer Berufskameraden eine Forderung vorbringen, mit allgemeinen Redewendungen oder verweist sie an die Zuständigkeit anderer Behörden, weil man nicht zu sagen wagt, daß ihre Wünsche unerfüllbar oder nicht einmal berechtigt sind. Auch diese Schwäche ist eine Gefahr der Demokratie.

Das kommende Jahr läßt eine Schicksalsprobe vorausahnen. Sie wird nur dann bestanden werden, wenn allen zeitlichen Bemühungen eine moralische Wiederaufrüstung vorangesetzt wird. Ignaz Seipel sprach an einem kritischen Wendepunkt der ersten Republik das Wort von der Sanierung der Seelen. Er traf damit auf allzu viele kleine Geister, die sich mit der Fortsetzung ihrer kurzsichtigen, einseitig im Materiellen aufgehenden Politik das Grab ihres Untergangs selbst schaufeiten. Die Gefahr ist groß, daß die weitere Entwicklung in die gleiche verhängnisvolle Bahn gerät wie nach dem ersten Weltkrieg. Die Sanierung der Geister muß kommen. Sie darf aber nicht in der Art erfolgen, daß man dem kleinen Mann mit schönen Reden kommt. Sie muß oben, bei der politischen Führung und den Behörden einsetzen. Mit der wirtschaftlichen muß die moralische Verwaltungsreform einhergehen. Die öffentliche Meinung muß umgestaltet werden, indem man darauf verzichtet, die Propagandamaschinen auf den zugkräftigen Touren der Aufreizung zum Lebensgenuß laufen zu lassen, sondern indem man die Aufmerksamkeit der Massen auf die Erkämpfung der wichtigsten Lebenserfordernisse lenkt. Mit Recht wird immer -wieder das Wohnungsproblem in die Mitte der Bemühungen um eine Besserung der sozialen Verhältnisse gestellt. Immer aber scheitern alle Projekte an den finanziellen Schwierigkeiten. Ließe sich nicht ein Weg finden, der die ungeheuren Summen, welche die Massen direkt dem billigen Vergnügen zuführen, für eine Baubewegung nutzbar macht? Ließe sich nicht ein Plan für eine freiwillige Mithilfe des Volk bei einem gigantischen Projekt des Wohnbaus erstellen, das in wenigen Jahren den unerträglichen Tiefstand auf diesem Gebiet ein Ende setzen würde? Natürlich geht das, ohne Zwang, ohne Diktatur. Nur muß dem Volke ein kräftiger Impuls zu einer einfachen, gesunden Lebensbeurteilung gegeben und eine wahrhafte Bildung des Herzens und Verstandes eingeleitet werden. Nur so kann der Bestand der Demokratie und damit der Freiheit garantiert werden. Nur so wird die Arbeit der Spaltpilze vergebens sein und die Jalireswende zu einer Wende in eine bessere Zukunft sein. Möge das nächste Jahr ein Jahr des geistigen Aufbruchs der Nation und der Völker werden! Dann wird es trotz äußeren Rückschlägen ein glückliches sein.

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