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„Schleichendes Gift“

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Gegenwärtig' wird der Öffentlichkeit ein Aufklärungsfilm vorgeführt, den das Leben selber gedreht hat. Das ist seine Reditferti-gung und zugleich das Hauptargument, auf welches die Hersteller vor der Verantwortlichkeit gegenüber den schweren Bedenken sich berufen, die eine derart schonungslose Realistik in der Volksaufklärung hervorrufen muß. Eine Materie, die nach Form und Inhalt in dieser Art bisher — und hier selbstverständlich mit voller Berechtigung — nur Ärzten und Studierenden der Medizin demonstriert wurde, nun auch der Allgemeinheit und besonders der heranreifenden Jugend zugänglich zu machen, ist ein Wagnis. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, daß dadurch im Gegensatz zur beabsichtigten Wirkung die natürliche Sdieu, welche unverdorbene junge Menschen der Beziehung zwischen den Geschlechtern entgegenbringen, verletzt wird, daß eine überflüssige Neugierde für diese Dinge geweckt wird, während auf der anderen Seite dort, wo Scham und Scheu bereits geschwunden sind, keine Besserung erzielt, sondern höchstens eine unlautere Sensationslust geweckt wird. Diese und ähnliche Gewissensfragen mögen die Hersteller während der Arbeiten an diesem Film erwogen haben. Sie tauchen aufs neue vor dem Kritiker auf, wenn er sich vor die Frage einer positiven oder negativen Beurteilung des Filmwerks gestellt sieht. Zu einer Antwort auf diese Frage kann man in diesem Falle nicht aus der Betrachtung des Bildstreifens allein gelangen, sondern nur dann, wenn man die Szenen und Episoden auf dem kulturgeschichtlichen Hintergrund des gegenwärtigen Zeitgeschehens zu sehen imstande ist.

Es ist bekannt, daß Kriege die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten begünstigen — wie vieles andere ein Ausdruck der sozialen Unordnung, die sie mit sidi bringen. Der letzte Krieg hat in dieser Hinsicht durch die Übervölkerung mit Soldaten und Fremdarbeitern, durch die Zerstörung von Wohnhäusern und durch die bei Kriegsende einsetzende Völkerwanderung für Wien besonders ungünstige Verhältnisse geschaffen. Sofort nach dem Zusammenbruch setzten im Rahmen der allgemeinen Aufbauarbeit tatkräftig und umsichtig geführte Bemühungen der Gesundheitsbehörden zur Erfassung und Behandlung geschlechtskranker Personen sowie zur Verhinderung der Ausbreitung venerischer Erkrankungen ein. Trotzdem und wiewohl sich luch die Lebensverhältnisse bis zum heu eigen Tage bereits weitgehend normalisiert haben, muß die be-trüblidie Tatsache, daß die Zahl der Monat für Monat gemeldeten Frischanstek-k u n g e n mit Lues und Gonorrhoe andauernd hoch bleibt, allen für das Volkswohl Verantwortlichen schwere Sorgen bereiten. Man behauptet zwar, daß eine Besserung sofort eintreten werde, sobald die Wirtschafts- und Ernährungsfrage zufriedenstellend gelöst und die Zahl der Besatzungstruppen entsprechend verringert sei. Das mag zutreffen. Leider liegt es aber nicht in der Hand des österreichischen Staates, auch nur eines dieser Probleme von heute auf morgen zu lösen. Wollte man warten, bis eine günstigere Entwicklung der Lebensbedingungen einen Wandel anbahnt, müßte man inzwischen schwere Schäden an der Gesundheit der Bevölkerung in Kauf nehmen.

Wir haben keine andere Wahl, als mit allen vorhandenen Mitteln, also auch mit den Möglichkeiten der geistigen Beeinflussung, den Kampf mit der Seuche aufzunehmen. Alle gesetzlichen Vorschriften werden durchbrochen werden, alle Drohungen vergeblich sein, solange der Wille des Menschen sich nicht aus innerer Überzeugung in die Absicht des Gesetzgebers einfügt. Erst wenn es gelingt, den Menschen aufzurütteln, einen beredten Sprecher zu finden, der ihm die ungeheure persönliche und soziale Verantwortung, die er durch ein ethisch unkontrolliertes Spiel mit Eros und Sexus auf sich lädt, bewußt zu machen vermag, darf man hoffen, daß mancher, der mehr aus Unachtsamkeit und Naivität, aus Neugier und Abenteuerlust denn aus effektiver sittlicher Schwäche in sein Unglück tanzt, durch eine Willensraffung davor bewahrt bleibt. Desgleichen werden Eltern und Erzieher daraus einen neuen Impuls für ihre Erzieherverantwortlichkeit empfangen.

Wer ist geeignet, die Rolle eines solchen Sprechers zu übernehmen? Es ist die geniale Idee der Schöpfer dieses Films, einen Zeugen wider die Krankheit aufzurufen, der unverdächtig ehrlich, offen und darum einzigartig eindringlich in seiner Sprache ist — die Krankheit selbst! Der Anblick der Zerstörung körperlicher Schönheit, die Enthüllung des ganzen Jammers chronischen Leidens und Siechtums, des Ekels und Grauens, das die Krankheit über ihr Opfer breiten kann, mag dem Beschauer überzeugend die Tiefe des Abgrunds dartun, an den ihn Leichtsinn und Unbeherrschtheit bringen. Die filmische Gestaltung dieser Idee läßt daher dem Zuschauer nicht im Wartezimmer des Arztes oder am Spitalseingang verweilen, sondern führt ihn direkt in das ärztliche Unter-suchungs- und Behandlungszimmer. Und aus dem leider heute so reichhaltigen Material an Geschlechtskrankheiten rollt nun eine Auswahl ihrer wichtigsten Formen und Lokalisationen über die Leinwand, wie sie in dieser Konzentration selbst für das in dieser Hinsicht schon etwas abgestumpfte ärztliche Auge erschütternd wirkt. Es kann daher mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß die eingangs geäußerten Bedenken für denjenigen Zuschauer, der sich einen Rest sittlichen Verantwortungsbewußtseins gerettet hat, nicht zutreffen. Vor der Wucht der Tatsachen müssen Scherz und Witz verstummen, und was übrig bleibt, kann nur das Entsetzen sein, das die Enthüllung der traurigen Wahrheit über die Geschlechtskrankheiten begleitet.

Damit erreicht der Film den Zweck, den ihm die Absicht seiner Schöpfer bestimmte.

Wesentlich trägt zum Gelingen neben der Auswahl und Konzentration des Bildmaterials die tadellose “fümtechnische Ausführung bei. Es muß besonders vermerkt werden, daß hier der Kamera eine für das Schwarzweiß-Aufnahmeverfahren außergewöhnlich gute Durcharbeitung gelungen ist, was besonders der Darstellung de syphilitischen Hautausschläge zustatten kömmt.

Es sei auch auf einzelne Züge des Films verwiesen, die - im Interesse der Wirkung besser unterblieben wären, beziehungsweise stärker betont gehörten. Die Idee, der Gefahr der Ermüdung durch die Einschaltung von aus dem Leben gegriffenen S z e ne n zu begegnen, ist der Geschlossenheit der Wirkung nicht abträglich, sondern könnte sie vertiefen, indem sie das Blickfeld der Betrachtung auch auf jene Gesellschaftserscheinungen ausdehnt,- die zweifellos den sumpfigen Nährboden für Laster und Krankhejt bilden. Aber es scheint, daß man hier in der Freiheit der Darstellung doch etwas zu weit gegangen ist. Die Verführungsszenen wirken„manchmal eher peinlich und könnten mitunter in einem einem anderen Sinn als Aufklärung aufgefaßt werden, als dies gewünscht ist. Hier ist Vorsicht am Platz!

Die medizinische Seite der Darstellung ist fast zu einseitig auf den Augenblickseffekt einer seelischen Erschütterung ausgerichtet. Hingegen sind die filmischen Möglichkeiten einer unaufdringlichen einprägsamen W i s-s en s be re i ch e r u-n-g durch die volksgesundheitlich wichtigsten Angaben über die Geschlechtskrankheiten didaktisch zu w e n i g ausgenützt. Es werden zum Beispiel über die Lues so viele — fast zu viele —- medizinische Angaben gemächt, wie es bei der Länge des Films' nur möglich ist. Vorteilhafter wäre es gewesen, gewisse Tatsachen besonders herauszuheben und thematisch durchzuarbeiten. Hier ist vor allem die Schmerzlosigkeit der luetischen Erscheinungsformen zu nennen. Noch immer gilt ja der Schmerz in der Volksmeinung als Gradmesser der Erkrankung. Daß bei den Krankheiten der Geschlechtsorgane gerade die Schmerzlosigkeit das alarmierende Signal ist, sollte daher über die bloße Erwähnung hinaus besonders eingeschärft werden. Zu wenig erscheint auch die Wichtigkeit der Diagnose in den ersten vier Wochen der Infektion sowie die Unscheinbarkeit des Krankheitsbildes in diesem Stadium hervorgehoben. ' '' .

Von diesen Details abgesehen, die schließlich auch der subjektiven Auffassung unterliegen, hält das Filmwerk nach jeder Richtung einer ernsten Prüfung stand. Geschaffen auf die Ahregung und durch die Tatkraft des Vorstandes' der Universitätsklinik für H'aut-und Geschlechtskrankheiten in Wien, Professor Dr. Leopold Arzt, dessen wissenschaftlicher Mitarbeiter Dozent Dr. St. Wolfram ist, gefördert durch die Behörden, insbesondere durch die' russische Besatzungsmacht, ist unter der Mitwirkung tüchtiger Filmfachleute und Darsteller dorn Ringen um die Erhaltung der Volksgesundheit ein -.willkommener Mitkämpfer erstanden. Unter der Jugend, die an der Schwelle des ehefähigen Alters steht, natürlich auch unter den Erwachsenen, hat dieser Film eint hohe Mission zu erfüllen. Als Erz i e h u n g s m i 11 e 1 für die Pu b e r t ä t s j u g e n d mu ß er n a c h-drück-lieh.abgelehnt werden.

Zum Schlüsse sei noch die Bedeutung vermerkt, die dem Film als Spiegelbild der gegenwärtigen Zeit zukommt. Hieraus ergeben sieh für den überlegenden Menschen wohl sehr ernste Reflexionen. Man braucht nicht eben ein kleinlicher Sittenrichter zu sein, um festzustellen, daß diese Bildtr mehr verraten als eine furchtbare körperliche Krankheit, daß das Problem der Geschlechtskrankheiten tiefere Wurzeln hat als bloß die Kapriolen einer leichtlebigen Jugend, oder den Appetit nach Schokolade. Die ganze Krise der geistigen G r u n d h a 11 u n g unseres Zeitalters mit ihren zerstörenden Folgen auf allen Teilgebieten'der Kultur, Inder Erziehung, in den Anschauungen über Moral und Religion, sowie über die Grundlagen des Gesellschaftslebens wird im Hintergrund der Szenen dieses Films lebendig. Sosehr wir daher in ihm eine Unterstützung im Kämpf gegen eine moderne Seuche begrüßen, sosehr müssen wir auch gerade aus ihm die Mahnung schöpfen, energisch die geistig-sittliche Gesundung unseres Volkes zu betreiben, ohne die jede ändere Bemühung fruchtlos verpuffen müßte.

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