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Schönes neues Europa

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Quertreibereien gegen ein allzu stromlinienförmiges Europa.

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Quertreibereien gegen ein allzu stromlinienförmiges Europa.

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Viel hat die in seinem Essay „Ritter, Tod und Teufel“ präsentierte These von Karl-Markus Gauß für sich, daß das „Europa der Regionen“ eine teuflische Erfindung ist. Seinem apodiktischen letz-ten Satz, daß mehr „darüber nicht zu sagen“ ist, als er sagt, kann man sich allerdings schwer anschließen. Für Gauß ist dieses neue EU-Europa nach innen eines, das daran geht, eine diabolische Symbiose von Internationalität und Fremdenfeindlichkeit zu bilden, und nach außen hin mitten in Europa eine neue (alte) Grenze zu ziehen. Gauß1 berechtigter (um nicht zu sagen heiliger) Zorn über die Geschichts- und damit wohl auch Gesichtslosigkeit des Brüsseler Imperiums sollte allerdings nicht unbedingt dazu benutzt werden, um Marcel Reich-Ranicki großdeutsche Ambitionen zu unterstellen, weil er den Begriff „österreichische Literatur“ als „niederrangige Literatur regionalen Zuschnitts“ definierte. Man sollte ihm vielmehr die Freude machen, zum Beispiel Ottokar Kernstocks lyrische Ergüsse zur deutschen Literatur zu erheben und dafür Johann Nestroy zur Wiener Regional- Literatur zu erklären.

Es gehört schon ein Portion Schwefeldampf dazu, darin einen Fortschritt Zu sehen, daß in Hinkunft die zahlreichen deutschen Freunde der Zillertaler Schürzenjäger ohne stundenlange Wartezeit in Kufstein zu einem Konzert nach Kitzbühel pilgern können und auf der anderen Seite in Österreich geborene, aus einem osteuropäischen Land stammende Menschen abgeschoben werden. Dazu gehören auch die 23 öster reichischen Begriffe, die wir laut Alt- Bürgermeister Helmut Zilk als Privilegium in die EU gerettet haben. Für Gauß wächst dort eine Menschheit heran, die „ohne Erinnerung und ohne Traum ist“. Das neue Europa ist für ihn „ausgefüllt und angefüllt mit unausgesetzter Produktion und Konsumation, mit Herstellung und Verzehr, mit Zeit-Vertreib in Beruf und Freizeit“ — mit einem Wort: ein kulturloser Kontinent.

Doch die Frage muß erlaubt sein, ob mit der Kritik am neuen Europa einerseits und der heftigen Abwehr der Vereinnahmung Österreichs (und seiner Literatur) durch deutsche Intellektuelle und Politiker nicht zwei verschiedene Dinge verknüpft wer- den, die so schwer Zusammengehen, weil „die lange getrennte Geschichte“ sowie die „paar blutigen gemeinsamen Jahre“ Österreichs und Deutschlands durchaus ein Sonderphänomen innerhalb der europäischen Geschichte darstellen. Gauß hat sicher recht, daß der „Druck sprachlicher Hegemonisierung ... durch das Fernsehen unerhört gestiegen“ ist und auch darin, daß Regio- nalismus dagegen kein geeignetes Rezept ist. Doch gerade deshalb muß bezweifelt werden, daß die „fortgesetzte Germanisierung Österreichs“ durch die Ausritte deutscher Professoren befördert wird.

Das „menschliche Artensterben“ ist gewiß kein Problem zwischen Deutschland und Österreich. Und das filt auch für den Nationalismus im nternationalismus.

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