7098241-1995_02_19.jpg
Digital In Arbeit

Schreiben ist Denken in den Zeichen des Alphabets

Werbung
Werbung
Werbung

In den Steinbrüchen des literari-I sehen Schaffens bleiben Blickfel-X der, Konturen, Skizzen sowie lose Bruchstücke der imaginierten und wirklichen Welt zurück, die nicht leicht eingeordnet werden können. Derart am Rande flanierend und „heimatlos” gestaltet sich das Prosawerk des peruanischen Schriftstellers Julio Ramon Ribeyro, der noch im August 1994 in Mexiko mit dem weithin renommierten Internationalen Literaturpreis Lateinamerikas und der Karibik „Premio Juan Rul-fo” ausgezeichnet wurde. Am 4. Dezember 1994 verstarb Julio Ramon Ribeyro im Alter von 65 Jahren an den Folgen einer Nierenoperation in einem Krankenhaus in Lima.

Seine meisterhafte Prosa mit dem Originaltitel „Prosas apätridas”, die keinem anderen seiner Werke zugehörig sein wollten und auch keiner Gattung völlig zugeordnet werden können, erschienen auf Deutsch unter dem Titel „Heimatlose Geschichten” (1991). 30 Jahre nach seiner Erzählungen „Auf offener See” (1961) und seines Romans „Im Tal von San Gabriel” (1964). Der sieben Jahre jüngere peruanische Romancier und Essayist Mario Vargas Llosa bezeichnet ihn zutreffend als einen der besten Erzähler Lateinamerikas. In der hispanischen Kulturwelt stieß die

Kurzprosasammlung auf ein ausgezeichnetes Echo.

Julio Ramon Ribeyro führte seinen „exzellenten” literarischen Erfolg selbst darauf zurück, daß „viele Leser aus den verschiedensten Ländern und sozialen Schichten mit ihren sympathischen Reaktionen davon berichteten, wie sie in diesem kleinen Ruch die ,Prosa' wiedergefunden haben, die vertraute Gedanken, Erfahrungen und selbst durchlebte Empfindungen ausdrückte.” Und er fügte noch hinzu: „Darüber habe ich eine Menge Anekdoten gesammelt, die ich Ihnen eines Tages erzählen werde.” Dazu konnte es nun leider nicht mehr kommen. Die „Heimatlosen Geschichten” richten sich selbst vor allem gegen die entfremdende Identitätslosigkeit des Vergessen und sind eine Kunstform der versuchten und zum Teil offensichtlich vergeblichen Wiedergutmachung an verlorener Zeit.

Die Kurzprosasammlung umfaßt 200 kurze Prosastücke, die der Autor „vor der Vereinzelung retten, dank der Nachbarschaft und der Zahl, zur Existenz verhelfen” wollte. Es handelt sich dabei um Denkbilder eines Essayisten, Romanciers, Erzählers und Dramatikers, um Illuminationen seines Pariser Alltags, um Tagträume,

Fragmente und Erinnerungen mit kafkaes-melancholischen Obertönen, die literarische Gestalt annehmen.

Mit einer gelegentlich wiederkehrenden Erinnerung an die Nächte von Lima, in seinem Stadtviertel Mi-raflores, beginnt die 55. heimatlose Geschichte: „Gestern dachte ich plötzlich zurück an die Nächte in Mi-raflores und begann, eine Erzählung zu schreiben. Da, und erst da, wurde mir klar, daß diese Nächte - gegen zwei oder drei Uhr morgens - eine besondere Musik hatten. Sie waren nicht still ... Erst jetzt, da ich mir diese Nächte in der Absicht, sie zu beschreiben, ins Gedächtnis zurückrufe, kann ich die leisen Geräusche wahrnehmen, die sie bewohnten. Brandungen an der Steilküste, Aufstöhnen der fernen Trambahn, Hundegebell auf den Hügeln und eine Art von Gezirp, ein fortwährendes gedämpftes Lautgeben wie von einer tief im Keller klagenden Trompete.”

Nun schlägt unvermittelt der Erzählfaden um in die Betrachtung über das Schreiben im Verhältnis zur Wirklichkeit: „Da begriff ich, daß Schreiben weniger ein Übermitteln von Bekanntem als ein Erlangen von Kenntnis ist. Der Akt des Schreibens erlaubt uns, eine Realität zu erfassen, die sich uns bis dahin nur unvollständig, verschleiert, flüchtig oder chaotisch zeigte. Viele Dinge erkennen oder begreifen wir erst, wenn wir sie aufschreiben. Denn schreiben heißt, uns selbst und die Welt mit einem Instrument erforschen, das viel rigoroser ist als das unsichtbare Denken: mit dem graphischen, visuellen, umkehrbaren, unerbittlichen Denken in den Zeichen des Alphabets.”

Julio Ramon Ribeyro wurde am 31. August 1929 in Lima geboren, kam nach dem Studium der Literatur und Rechte bereits Anfang der fünfziger Jahre nach Europa und lebte in Madrid, Paris, München und Antwerpen, kehrte dann noch einmal nach Lima und Huamango zurück, bevor er ab 1960 bis Anfang der neunziger Jahre seinen ständigen Lebens- und Schaffensort in Paris fand, wo er zuletzt in der Avenue Van Dijk wohnte und an seinem elfbändigen biographischen „Diario personal” (Persönliches Tagebuch) arbeitete. Bis 1972 war Julio Ramon Ribeyro als Redakteur und Übersetzer bei der Nachrichtenagentur AFP und vertrat danach Peru bei der Unesco als Kulturbeauftragter seines Landes.

Obwohl einzelne seiner Romane auch ins Englische und Französische übersetzt wurden, gehörte Julio Ramon Ribeyro nicht zu den extravagant schillernden Figuren des lateinamerikanischen Literaturbooms; indes zählt er zu den wichtigsten und meist gelesenen Autoren seines Landes, die weniger spektakulär als vielleicht umso erkenntnisreicher wirksam waren. Die 200. heimatlose Geschichte bekräftigt immer wieder die intensive künstlerische Haltung von Julio Ramon Ribeyro, an den sich bald nur noch die nicht mehr erinnern werden, die selbst Vergeßliche sind: „Die einzige Weise, am Leben zu bleiben: die Saite unseres Geistes gestimmt zu halten, den Bogen gespannt, die Zukunft im Auge.”

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung