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Ingo Schulzes Roman "Neue Leben": ein zeitgeschichtliches Dokument.

Sieben Jahre sind seit dem Erscheinen des Bandes "Simple Storys" vergangen, der Ingo Schulze zu einem der wichtigsten und meistübersetzten Schriftsteller Deutschlands machte. Die jahrelange Schreibarbeit hat sich gelohnt, auf beinahe 800 Seiten hat Ingo Schulze ein penibel recherchiertes Panorama der Wende entworfen, ein Vexierspiel, in dem alles in Bewegung und niemandem zu trauen ist.

Der Westen im Kopf

Der Roman "Neue Leben" erzählt davon, dass das Leben und die Wahrheit mehrere Seiten haben, gedreht und gewendet werden können. Ingo Schulze hat dafür eine raffinierte literarische Form gefunden, die im 18. Jahrhundert und vor allem in der Romantik besonders beliebt war, worauf der Untertitel verweist: "Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Ingo Schulze." Und in diesem Vorwort erklärt der Autor, dass es sich um Briefe handelt, die er in verstaubten Schuhkartons gefunden hat, nachdem der hoch verschuldete Antiheld vor Gläubigern und Steuerfahndern getürmt war.

"Auf welche Art und Weise kam der Westen in meinen Kopf? Und was hat er da angerichtet? Ich könnte natürlich auch fragen, wie der liebe Gott in meinen Kopf kam. Das liefe auf dasselbe hinaus, wäre allerdings weniger auf die Besonderheit meines Sündenfalls gerichtet." Das fragt sich Enrico Türmer in einem seiner Briefe, die er angeblich frühmorgens zwischen 6. Jänner und 11. Juni 1990 an drei verschiedene Empfänger schreibt. Die Antwort ist nicht einfach, denn voller Tatendrang hat der Dramaturg und heimliche Schriftsteller nach der Wende bei einer neu gegründeten Zeitung angeheuert und sucht sich nun zwischen Anzeigengeschäft und kritischer Berichterstattung zurechtzufinden.

Enrico, der sich nun lieber Heinrich nennt, schreibt an seine Schwester Vera, die noch vor 1989 in den Westen ausgereist ist, und die er mehr als geschwisterlich liebt, an seinen Jugendfreund Johann, den er vom Priesterberuf abbringen kann, und an die zunächst unerreichbare Liebesprojektion, die Fotografin Nicoletta im Westen. Und unmerklich entsteht, wovon er geträumt hat, die Geschichte seines Lebens, da er an Vera vor allem über Familiäres schreibt, an Johann über den Fortschritt seines Erwerbslebens und an Nicoletta seine Jugendgeschichte, sodass die Kreisbewegung wieder an den Anfang führt.

Akribisch kommentiert wird der mäandernde Erzählfluss der Briefe vom fiktiven Herausgeber Ingo Schulze, der sich als penibler Chronist der Wende erweist. Und die überbordende Detailverliebtheit des Chronisten ist es auch, die bisweilen das Lesevergnügen trüben kann, manchmal wäre weniger vielleicht mehr. Ingo Schulzes gelungener neuer Roman ist vieles zugleich, Bildungsroman, Künstlerroman - und ein unverzichtbares zeitgeschichtliches Dokument.

Neue Leben

Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Ingo Schulze

Roman von Ingo Schulze

Berlin Verlag, Berlin 2005

794 Seiten, geb., e 24,70

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