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Schuld und Sühne

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Tag für Tag meinte ich den fragenden Blick der Hausfrau zu sehen: „Ist denn das Reh immer noch nicht geschossen?“ Tag um Tag erweiterte ich meine Nachsuche — und vergrämte dadurch die Rehe immer mehr. Das ging so drei Wochen lang; jetzt war's schon Anfang Dezember 1944. Bezaubernd auch diese schwarze Zeit im Walde: leise tropft der Nieselregen von den grünen Nadeln; unter den Laubbäumen schwimmen gelbe Blätter auf der Pfütze; ein paar zerbrochene, wurmzerfressene Pilze liegen noch herum, und langsam, wie um ihre Langeweile zu betäuben, pendeln die zerrissenen Spinngewebe hin und her. Es ist das keine grundlose Melancholie, wie oft die der Menschen: durch Wachsen. Blühen und Fruchttragen hat er sie sich ehrlich verdient, der Wald. Er hat getan, was er konnte, und jetzt kann er nur noch warten.

Ich schlenderte, den Drilling über der Schulter, wieder einmal mit leeren Händen heimwärts. Da sah ich, noch von-den Waldstämmen aus, über dem dunklen Hügelkamm mit der Wintersaat die schmale Silhouette eines Rehhalses. Unbeweglich starrte es auf mich Unbeweglichen. Dann war es im Nu verschwunden; auch gab es ja kein Schußlicht mehr. Aha, die Wintersaat: das war schmackhafter als die Herbstwiesen, wo man sich die frischen Gräser erst heraussuchen mußte. Mit der Wintersaat dort mußte ich sie bekommen!

Von drei Seiten umstand der Wald diesen jungen Winterroggen: quer über den Kamm der Kiefernhochwald, von wo die Rehe kamen; unten, dem Kamme gleichlaufend, zog sich der Eichenwald, und gegenüber wuchs die Tannen-Schonung. Am nächsten Abend setzte ich mich oben am Hochwald an, doch da traten die Rehe unten, bei den Eichen, heraus. Am folgenden setzte ich mich bei den Eichen an; doch da kamen zwei Frauen aus dem Dorf, laut plaudernd und lachend, vorüber — da war die knappe Viertelstunde Schußlicht schon vorüber. Und dann versuchte ich es mit der Tannenschonung. Aber nun trat das Wild 250 Meter tiefer unten aus. An ein Heranpürschen war bei der Totenstille und der knappen Zeit nicht zu denken. Am nächsten Vormittag baute ich mir einen Ansitz wieder am Hochwald, jedoch nahe den Eichen, und dachte: jetzt oder nie.

Eine Stunde saß ich da am Abend: so unbeweglich, daß sich mir eine Meise auf den Flintenlauf setzte. Werden sie kommen? Und nun kamen sie wirklich leise, leise aus dem Hochwald — eine Ricke und zwei erwachsene Kitze, in hundert Meter Entfernung. Dieser Augenblick vorher ist der schönste: grau der Abendhimmel, graugrün das Feld, grau die Rehe, und grau, voll gewölbter Finsternisse, der Wald — alles gesenkten Hauptes bereit, in das kalte Nachtdunkel zu versinken. Dabei sieht man nie, wie die Rehe heraustreten, sondern sie sind plötzlich, geheimnisvoll, da.

Natürlich zielte ich auf eines der Kitze, um keine Waisen zu machen. Schlechtes Licht und hundert Meter — ich konnte den Zielstachel nur ganz ungefähr auf das Blatt bringen. Ein Entschluß und — der entweihende Knall zerriß die Stille. Das Zielfernrohr war nicht mehr lichtstark genug; ich nahm den Feldstecher und schaute mir durch das Glas die Augen aus. Plötzlich durchdrang ein Schrei die Stille — ein entsetzlicher, kristallreiner, langgezogener Schrei, der wie aii.. . klang: wie eine Klage kindlicher Unschuld, die nicht weiß, warum sie leiden muß.' Ich blickte weiter durch das halbbeschlagene Glas und sah plötzlich ein Reh langsam auf den Wald zugehen. Um Gottes Willen... ich habe es bloß krankgeschossen: auf den Knall müssen die beiden anderen Rehe doch schon längst geflüchtet sein! Schnell schoß ich noch einmal; es lag sofort. Jetzt besaß ich nur noch eine dicke Kugelpatrone im Schrotlauf, denn- mehr Munition hatte ich nicht mitgenommen. Und nun ging ich langsam — schon in halber Dunkelheit — auf das Getroffene zu. Da sah ich etwas, was ich nie vergessen werde: links lag die Rehmutter, nur noch schwach schlegelnd, sie mußte in wenigen Sekunden tot sein. Rechts aber, fünf Meter von' ihr, war das Bockkitz — auf den Vorderläufen stehend, mit den Hinterläufen am Boden, wie ein halb sitzender Hund: welch ein scheußlicher Schuß, in den hinteren Teil des Rumpfes! Das Kitz also hatte so langgezogen, so kristallrein geschrien, und die Ricke war aus Mutterangst nur ganz langsam, ganz zögernd, auf den Wald zugeschritten. Jetzt gab es bloß eines — dem armen Kitz sofort den Fangschuß zu geben. Und nun, in meinem Entsetzen über das angerichtete Unheil, tat ich etwas sehr Dummes: statt auf den Hals zu zielen, schoß ich auf das Herz. Die dicke Schrotpatronenkugel ging durch die Lunge und hatte das Herz nicht getroffen, denn das unglückliche Wesen blieb halb aufrecht, lebte noch, und ich sah den dampfartigen Luftstrahl ius der talergroßen Schußöffnung rhythmisch mit dem Atmen herausdringen... Und ich Morder hatte keine Munition mehr! Das war To gräßlich, daß es eine andere Gräßlichkeit heraufbeschwor. Nur schnell ein Ende machen! Ich zog mein Messer, vermied den Angstblick der Rehaugen, griff den rührend schönen Hals und machte einen scharfen tiefen Schnitt quer durch die Kehle. Aber es lebte immer noch; immer noch pfiff der dampfige Luftstrahl aus der Flanke auf und ab! In meiner Verzweiflung packte ich jetzt den Rehhals mit beiden Händen und drückte die Luftröhre ganz fest zu. Nach einer ewiglangen Minute war das Kitz tot. Die Ricke lag schon längst leblos da.

So war das also. Ich beschloß, nie mehr Rehe zu schießen. Ich fühlte mich schuldig und dachte: wann wirst du das bezahlen müssen?

Dann ging ich heim und wurde von der Hausfrau zum Doppelabschuß beglückwünscht.

Und ich habe es bezahlt. Vier Monate später war ich nach Holstein geflüchtet und schmeckte nun, wie das ist, wenn man selber beschossen wird: wenn so ein Tiefflieger herunterkommt, seine sechs Maschinengewehre schnattern läßt, dann eine Riesenellipse durch den Himmel zieht und wieder schnatternd herunterkommt... und wieder ... und wieder . . . Etwa achtmal, wenn er Lust-dazu hat. Aber das war noch gar nichts. Eines Abends saß ich am Kamin, trank Pfefferminztee und dachte: Wann werden endlich die Engländer kommen? (Es war der 1. Mai 1945.) Da kam plötzlich ein Heulen wie von einer fliegenden Lokomotive, und mit einem Lufterzittern detonierte etwas im Garten. „Artillerie! Jetzt schnell in den Keller!“ sagte ich und klappte die Falltür auf, um hinunterzusteigen. Da kam eine zweite Detonation, die nahm mir die Luft weg, und gleich darauf fühlte ich einen Stoß, wie von einer wütenden Faust, auf den rechten Oberschenkel. „Ich bin getroffen“, sagte ich und schleppte mich durch die Blutpfütze zum Sofa.

Dieser Augenblick — nur ein Augenblick — war wahrhaft furchtbar! Nicht der Stoß (der schmerzte nicht), nein, es war ein rein geistiges Entsetzen. Jetzt hat das Gräßliche, so dachte ich, dich dennoch erwischt. Immer wieder hatte es die Tatze gegen dich erhoben; immer wieder warst du schlau ausgewichen, so daß die Tatze unschlüssig, kraftlos niedersank . . . aber nur, um dich jetzt zum Schluß um so sicherer ... Aber nein, es war etwas viel Schlimmeres: es war das Angerührtsein von einer Höllenmacht! Diese heulende Detonation, dieses Luftwegnehmen, diese völlig außermenschliche Schleuderkraft — das war ein Aug-in-Aug, ganz unmittelbar, mit dem Satan. Und man glaube nur nicht, daß ich phantasiere, daß die Angst sich etwa sogleich in eine Mythe umsetzte . . . nein, das hier war völlig unmißverständlich. Ich war nicht benommen; ich hatte das „Ich bin getroffen!“ laut aller Zeugnis eher in gleichmütigem Konversationston gesprochen. — Macbeth hat nach seinem Kindermord dieses Aug-in-Aug mit dem Gottseibeiuns für seinen Lebensrest aushalten müssen. Keine Qual kommt diesem geistigen Entsetzen gleich. Es ist ein Vorgeschmack der Hölle.

Ich glaube, daß der Kitzbock etwas Aehnliches durchgemacht haben muß, von seinem langgezogenen, kristallreinen Schrei bis zum Erwürgtwerden. Denn man stelle sich vor, daß man ermordet wird, aber von einem ungeschickten Mörder. Man ist ihm wehrlos ausgeliefert, und er bemüht sich geschäftig um das Kaltmachen, kommt aber damit nicht zu Rande. Die letzten Augenblicke des Lebens — solche Augenblicke! Auch hier versank (soweit das bei einem Tier möglich) der Körperschmerz zu völliger Bedeutungslosigkeit gegenüber der Angst und dem Entsetzen.

Und doch war weder ich noch der englische Artillerist ein Satan. Was auf dieses Getroffenwerden folgte, war zwar im höchsten Grade „unangenehm“, doch mit jenem Augenblicke metaphysischen Schauders gar nicht zu vergleichen. Jemand schleppte mich Halbohnmächtigen die Kellertreppe hinunter; warm floß es mir über den Rücken: auch dort stak ein Granatsplitter. Das Sanitätsauto hatte eine zweistündige Panne; einer starb darin während der Fahrt; bei Ankunft im Krankenhaus wurde mir meine Decke gestohlen. Dann sausten die Granaten dicht über das Krankenhaus; das Personal lief in den Keller und ließ uns Bewegungslose oben liegen... so ist das Leben, besonders wenn man stirbt! Aber das war alles nicht so wichtig, zumal, wenn man die großartigste Eigenschaft der Zeit in Betracht zieht: nämlich, daß sie vorübergeht. Wirklich zählen aber tat nur jener erste Moment.

Nun könnte man fragen, woher ich denn wisse, daß dieses die Sühne jener Schuld war? Und hier muß ich gestehen, daß ich es nicht beweisen kann, sondern nur aus Privätinforma-tion genau weiß. Seitdem ist die Sache mit den Rehen für mich innerlich „abgegolten“. So blieb nur noch das Geständnis. Was hiermit getan ist.

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