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SCHWABINGER BOULEVARD
Glücklicherweise gehört München zu den Städten, die im Herbst fröhlich werden. Weshalb es auch in den letzten Jahren so oft von der Filmkamera heimgesucht wurde. Das hat zwar dem deutschen Film auch nicht auf die Beine geholfen, wohl aber einigen Schwabingern zur Begleichung der längst fälligen Stromrechnung. Mit dem Rest sitzt man dann unter dem winddurch- zausten, föhnigen Himmel der Leopoldstraße, trinkt seinen Kaffee oder sein Bier, tankt Boulevardluft, die Phantasie bläst bunte Seifenblasen, was um diese nachmittägliche Stunde eigentlich noch verboten ist und wohl deshalb soviel Spaß macht. Denn alle tun es.
Wie üblich ist um diese Tageszeit auch viel flanierendes Volk auf den Straßen. Bärtige Jünglinge,“ die wie Robinson aus- sehen öder auch’wie Jack Kerouac, Mädchen mit Pferdeschwanz und wespigen Taillen, Liebespaare, die noch eng umschlungen gehen wie bei Peynet, das struppige Volk der Maler samt Bildern und Familienanhang, dazu der bunte Strom der Autos, das alles ergibt einen denkbar pariserischen Effekt. Studenten (oder sind es Schauspieler, Schriftsteller?) brüten über Manuskripten, die sie schon längst auswendig kennen, indes ihre vitaleren Altersgenossen mit jugendlicher Sorglosigkeit in klapprigen, buntbemalten Dixies durch die Gegend brausen. Denn der menschliche Geist bedarf bekanntlich der Freiheit. Viele bekannte Gesichter — kein Wunder! —, doch wenig Prominenz. War das nicht eben Erich Kästner? Möglich. Der Passantenstrom ist zu dicht. Ein riesenhafter Neger zupft auf seinem Banjo, zwei Japaner machen sich gegenseitig Komplimente. Ein hochdotierter Filmkomponist lächelt, wahrscheinlich ist ihm gerade wieder eine nette Melodie eingefallen. Die Atmosphäre schwankt zwischen heißer Musik und zärtlichem Wahn Nur die blaue Trambahn und die vielen Tauben erinnern an die ferne Stadt hinterm Siegestor.
Rasch wie der Wind sind am Himmel ein paar weiße Wolken aufgezogen, aber das macht nichts, denn die Sonne kommt gleich wieder heraus. Die Sesselchen vor den Cafes bleiben bis aufs letzte besetzt. Es sitzt sich unbequem auf ihnen. Auch hat man beständig den Benzingestank in der Nase. Doch ist das Leben nicht viel zu aufregend, als daß man bequem herumsitzen dürfte? Das junge Mädchen vom Nebentisch ist sicher vom Film. Wie kann man sonst im sackleinenen Pulli noch so schön sein! Wir geben uns einen Ruck, versuchen ein etwas hilfloses Lächeln und kommen ins Gespräch. Nein, sie ist Kunstgewerblerin. Modeschmuck und so, und der Pfirsichsaft rinnt ihr dabei über die Lippen. Sie freut sich wie ein Schneekönig, weil sie nun endlich ein eigenes Dach über dem Kopf hat, im sechsten Stock, schräg und mansardiert, und die Treppe mußte erst ausgebessert werden. Dafür sei der Ausblick himmlisch, mit Blumentöpfen vor dem Fenster, und über die Dächer der halben Stadt hinweg bis zu den Türmen der Frauenkirche, was die Sache mit der Treppe nun doch wieder anheimelnd und gemütlich macht. Und außerdem: wenn man schon in einem Alter, da andere noch nicht richtig gehen konnten, die Unterschiede zwischen Fauvismus und Dada heraus hatte, ist das alles nicht so wichtig.
Manchmal bringt man sich selbst in die komische Lage, jemandem etwas erklären zu wollen, für das es keine Erklärung gibt. Gestern also kam mein Freund Mirko mit einer Batterie von Slibowitzflaschen und dem Wunsch, das weltberühmte Schwabinger Nachtleben kennenzulernen, nach München. Frisch geschniegelt und pomadisiert, was zwar nicht schön, aber praktisch war und sein pechschwarzes Haar davor bewahrte, störend im Wind zu flattern, zogen wir denn los. Von Kennerstolz und Mitteilungsbedürfnis erfüllt, schleppte ich ihn über den Boulevard, versuchte, ihn da und dort auf den unnachahmlichen Chic eines Plakates aufmerksam zu machen, verwies ihn auf den von der Sonne elegant vergoldeten Triumphbogen (fast wie in Rom, wo er noch nie gewesen war, meinte Mirko), saß mit ihm in sechs von den zwölf Cafes und fand dabei, daß ein Teppichhändler, der vor seinem Laden stand, eine verblüffende Ähnlichkeit mit Mirkos Onkel in Sarajewo hatte. Aber Mirko wünschte nicht Teppichhändler zu sehen, die wie sein Onkel in Sarajewo aussahen, sondern Schwabing.
Aber wie sollte ich ihm Schwabing erklären? Ich muß zugeben, daß es eine schwierigere Aufgabe war, als ich mir gedacht hatte. Ich wollte ihn nicht mit schöngeistigen Gesprächen ermüden noch Kandinsky und die „Elf Scharfrichter“ als Zeugen beschwören. Erstens war das schon lange her, und zweitens hätte es auf Mirko wohl seine Wirkung verfehlt. Auch die Schwabinger Laterne und das Dienstmädchen, das unterm Kochen Dosto- jewskij liest, konnten ihm nicht imponieren. Mehr Interesse konnte er schon der Geschichte von dem Petticoat abgewinnen, der sich eines schönen Morgens einsam und verlassen auf einer der Hauptverkehrsadern im Englischen Garten fand. Er meinte, München sei eine lustige Stadt. Im übrigen zeigte er höfliche, doch kühle Begeisterung. Den ausgestellten Bildein gegenüber bewahrte er die vorsichtige Zurückhaltung eines Mannes von Welt. Nicht ohne deutlich sichtbares Wohlgefallen ruhte sein Auge hingegen auf zwei fleißigen Twens, die einen unerhörten Eifer im Auffrischen der sommerlichen Bräune an den Tag legten.
Schließlich nahte der Abend, und wir stürzten uns erwartungsvoll in das weltberühmte Nachtleben. Es ist eine poetische Gegend, das alte Viertel zwischen Silvesterkirchlein und Wede- kind-Platz, die Urzelle Schwabings eigentlich, mit struppigen Montmartrebäumen, verwilderten Hinterhöfen und verwinkelten Dächern, aus denen nachts die Lichter der Ateliers hervorlugen. Gleich rechts sprudelt der Schwabinger Bach, ist noch ländliche Idylle. Kaum hundert Schritte sind es von dort bis zum Wede- kind-Platz. Am Tag von resoluter Marktstimmung beherrscht, staut sich ab zehn Uhr das Nachtleben um den steinernen Sockel. „Seltsam sind des Glückes Launen" steht dort in der Handschrift des Dichters. Auch im Innern der „Künstlerlokale“, meist ehemaligen Bierwirtschaften, heute modisch ausgemalt und flackrig beleuchtet, ist noch viel Atmosphäre von 1900, kann es Vorkommen, daß eine Schwabinger Schwester der zotteligen Pariser Zeitüngsverkäufer und Clochards plötzlich aufs Podium steigt, ein freches Chanson hinlegt und das Publikum in einen Begeisterungstaumel versetzt.
Da man nie weiß, welches der Lokale gerade „en vogue“ ist, warfen wir zuerst einen Blick in die „Hängematte", wo aber noch nicht viel los war, tanzten dann in der „Tarantel“ und saßen darauf im „Heuboden“ mit ein paar freundlichen Beatniks und einem Dichter beisammen, der uns beim zweiten Bier mit abgeklärter Miene zugab, daß sich seine Verse reimten. Zur mitternächtlichen Stunde landeten wir schießlich bei Schwabings weltbekannter Diseuse.
Heute morgen erfahre ich, daß Mirko unter Hinterlassung von zwei Slibowitzflaschen und einem rasch hingekritzelten Gruß abgereist ist, nach Belgrad. Und nun sitze ich auf unserem Boulevard und will ihm eben einen schönen, langen Brief schreiben und ihm den Zauber Schwabings erklären, das Verfliegen der Ordnungen, mal Geld haben, mal keines, den existenzia- listi,sehen Kellerzauber plus indischem Hennafleck, oder den Fasching zum Beispiel, in dem noch etwas von der alten Heiterkeit des Lebens erwacht, welche den Menschen befiehlt, ihrer Würde die bunte Nase aus Papiermache aufzusetzen und ihr Glas zum Himmel zu erheben und zu lachen, daß es bis zu den Sternen tönt.
Aber wie ich gerade so in die Sonne blinzle, wer kommt da angeschneit? Mein guter alter Freund Fred. Er ist quietschvergnügt, so daß ich natürlich sofort annehme, er hat wieder einmal ein Bild verkauft. Und tatsächlich, ich habe mich nicht getäuscht Sogar gleich zwei! An einen sagenhaft reichen Zahnarzt aus Stuttgart. Der Mann versteht zweifellos einiges von Kunst. Und nun will er mit seinem buckligen Citroen nach Saint Tropez, schon morgen abend soll es losgehen. Einen ganzen Winter voller Sonnenschein und Mimosen! Und das Tuten von Dampfern, nein, Hochseejachten! Der Mann in Stuttgart soll hochleben! Es bleibt uns nichts anderes übrig, als auf seine Gesundheit anzustoßen. Die neuen Leinwände sind schon präpariert. Übrigens — mich hat er auch gleich eingeladen mitzukommen.
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