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Schwaches Buch, großer Erfolg...

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Vermutlich hat der polnische Drehbuchautor und Filmregisseur Tomek Tryzna erst hinterher ein Filmskript zu seinem ersten Roman, „Fräulein Niemand”, ausgearbeitet: In Warschau 1994 erschienen, sogleich verfilmt und bereits in zehn Sprachen übersetzt, wurde das Buch nun im „Literarischen Quartett” harsch gescholten und nur vom Gast Wendelin Schmidt-Dengler ein wenig verteidigt. Man hörte da, daß die deutsche Fassung (in sehr gutem Deutsch von Agnieszka Grzybkows-ka) sich nicht immer streng an den Originaltext hält, also eine eigenständige Übersetzung gelungen ist.

Die Hauptfiguren sind 15jährige Mädchen unterschiedlicher Herkunft, aber gleicherweise zur Exzen-trik Halbwüchsiger neigend. Ma-rysia, aus einer kopfstarken Familie, deren Vater auf einen besseren Posten in die Kleinstadt versetzt wurde, erzählt uns die ganze Geschichte voll phantastischer Episoden, vom Autor subtil durchdacht und dem, sagen wir, sensiblen Naturkind in den Mund gelegt. Der Roman spielt während der letzten zwei Monate des Abschluß-lehrganges einer Hauptschule. Ma-rysia kommt aus dem dörflichen Barackendasein in die aus mehreren Zimmern und Bad bestehende Wohnung eines städtischen Neubaus, ein Aufstieg also. Sie kommt aber auch aus der ländlich-egalitär zusammengesetzten Dorfschule in eine Klasse, in der es krasse Klassenunterschiede gibt. Diese werden geschildert, aber nicht betont: keine Politikkritik. Man muß eben einfach wissen, daß es sich um das im Umbruch befindliche Polen der achtziger Jahre handelt.

Natürlich wird Marysia, als „Neue”, zunächst als Fremdling behandelt, unkollegial, es muß sogar, ziemlich unfreundlich, das Problem gelöst werden, welcher Sitzplatz für sie „frei” ist. Ein Lauser stellt ihr ein Bein, und sie fällt der Länge nach hin, als sie zum erstenmal aufgerufen wird und zur Tafel gehen will.

Bald beginnt eine aparte Dreiecksgeschichte. Ewa, die Klassenschönste, hat reiche Eltern und haust in einer Luxusvilla. Kasia ist die Tochter einer gutsituierten Ärztin, die vom Mann getrennt lebt - einem reichen Tunesier, der regelmäßig beträchtliche Dollarsummen schickt. Kasia zuerst, und später Ewa, bewerben sich um das unerfahrene, staunende Mädchen, das bei den neuen Freundinnen sowohl eine finanzielle als auch eine erotische Freizügigkeit kennenlernt, von deren Existenz sie nichts geahnt hat. Bald hat sie ihren Wunsch, Schneiderin zu werden, hinter sich gelassen, verliert sich in Tag- und Nachtträumereien und sieht sich (von den zwei Stars neuer Wohlhabenheit magnetisch angezogen, alsbald aber launisch als „Fräulein Niemand” fallengelassen) schließlich, in der Phantasie die untreuen Freundinnen übertrumpfend, als Märchenprinzessin. Eine Utopie, in welcher sich ihr Grübeln und zuletzt der Roman verliert. Mitten im Schwelgen überhandnehmenden Größenwahns, als Kompensation der Nichtigkeit, bricht die Geschichte ab: ohne Punkt.

Der internationale Erfolg des Romans beruht sicher nicht nur auf den glaubwürdig (aber völlig unpornographisch) beschriebenen Intimitäten teils zärtlicher, teils verletzender Natur, sondern auch auf einer - man möchte sagen: souverän - unterlassenen Behandlung des politischen Umschwungs. Es zählen, meint der Autor wohl, nach wie vor hauptsächlich die tragischen Konflikte privatester Art.

Wenn Czeslow Milosz in einem vielzitierten Essay dem Werk die Darstellung „shakespearescher Leidenschaften” nachsagt, ist das eine Übertreibung, die man nur als Patriotismus eines Nobelpreisträgers verstehen kann und am besten taktvoll übergeht.

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