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Schwedenbild mit Lücken

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Der Schreiber dieser Zeilen sucht« in einer großen deutschen Stadt ein« Buchhandlung auf und bat den Verkäufer, ihm einige Werke neuere: schwedischer Dichter vorzulegen. Mar legte sofort den „Nils Holgersen“ vor Selma Lagerlöf auf den Tisch, dazt eine ganze Reihe von Kinderbücherr der Astrid Lindgren, nach einigem Herumsuchen kam noch ein alter Band Dramen von Strindberg, ein Buch von Hamsun und eine Reiseschilderung von Sven Hedin an das Tageslicht, aber das war dann auch alles. Di« Lagerlöf war in dieser Auswahl zur „neuesten“ schwedischen Literatur geworden, den von den Schweden selbst sehr kritisch beurteilten Sven Hedin hatte man zum Dichter befördert, der Norweger Hamsun war zum Schweden geworden und die unermüdliche Astrid Lindgren — ein Wunder an Produktivität auf dem Gebiete der Kinderliteratur — hatte die Ehre erhalten, die neuzeitliche schwedische Dichtung zu repräsentieren!

Es gibt zwar Zehntausende deutschsprachiger Menschen, die über die moderne schwedische Kultur und besonders die Literatur sehr gut Bescheid wissen, aber im allgemeinen ist das Wissen über Dinge, die nicht täglich in den Zeitungen behandelt werden, sehr mangelhaft. Wer auf dem Kontinent kennt nicht den Ingemar mit der eisernen Faust, der auf Weltmeisterschaftskämpfen seine Millionen sammelt? Wer kennt nicht die hochbusige Anita Ekberg, die Eheskandale der Ingrid Bergman, die Gagen der Profifußballer Gunnar Gren, „Nacka“ Skoglund und Lidholm? Und wer weiß auf der anderen Seite etwas vom Werk des Nobelpreisträgers Pär Lagerkvist, vom Lyriker Harry Martinsson, von Hjalmar Gullberg, «1er eben den „Kleinen Nobelpreis“ von 25.000 Kronen erhalten hat? Wer kennt die Musik Franz Berwalds und Hilding Rosenbergs und wer die wunderbaren Schöpfungen des Bildhauers Milles? Jeder von ihnen ist für die schwedische Kultur von unvergleichlich größerer Bedeutung als alle Anitas und Inge- mars zusammengenommen, aber nur wenige kennen sie.

Wenn man betrachtet, wie nahe der deutsche und der schwedische Sprachkreis einander benachbart sind, ist diese Fehlbeurteilung und Fehleinschätzung, die sich in vielen Fällen der blanken Unwissenheit nähert, schwer zu verstehen. Wo liegen die Gründe dafür? Wieso weiß man so viel von der Qualität schwedischer Kugellager und schwedischer Streichhölzer, von den Vorzügen schwedischer Primadonnen und schwedischer Sportler, und nichts von den Schriftstellern und

Künstlern? Der Fehler liegt offenbai auf beiden Seiten.

Legende vom Wohlstandsparadies

Soweit dies eine schwedische Gewissenserforschung notwendig macht, ist es natürlich nicht unsere, sondern Aufgabe schwedischer Institutionen, Wege zu einer besseren Information zu finden. Daß hier viel nachgeholt werden muß, darüber ist man sich in Stockholm vollkommen im klaren. Aus der Erkenntnis der Versäumnisse heraus kam der staatliche Vorschlag, im Herzen der schwedischen Hauptstadt ein sogenanntes „Schweden-Haus“ zu errichten, das besuchenden Ausländern und allen interessierten ausländischen Institutionen überhaupt alle gewünschten Informationen merkantiler, journalistischer und kultureller Art geben kann.

Daß dieses Schwedenbild im deutschsprachigen Raum verzerrt und verschwommen erscheint, ist jedoch zum Teil auch die Schuld der Presse in diesen Ländern. Die Zahl der ständigen Berichterstatter aus dem Norden geht ununterbrochen zurück, sie ist heute geringer, als sie vor 50 Jahren war. Das Lohn-Preis-Gefälle vom Norden zum Süden erlaubt es beispielsweise keinem einzigen Auslandsjour- nalisten, hauptberuflich und ausschließlich für die österreichische Presse zu arbeiten. Obwohl beide Länder im selben EFTA-Verband sind und Österreich im Norden viel „Good will“ besitzt! Dieses falsche Bild ist aber auch auf das Konto jener nach Skandinavien emigrierten Journalisten und Publizisten zu setzen, die auf Grund ihres Abscheus vor dem Hitle- rismus und allen seinen Folgeerscheinungen ein Bild Schwedens zeichneten, dem oft alle kritischen Züge mangelten. Es ist erstaunlich, wie wenig die nach Schweden emigrierten und von dort berichtenden Publizisten zur tiefgreifenden und sachlichen Aufklärung ihrer Leser imstande gewesen sind. Auch auf schwedischer Seite hat man diese Erscheinung voller Verwunderung verfolgt und war keineswegs erfreut darüber, an Stelle objektiver Schilderungen panegyrische Ergüsse fragwürdiger Natur zu lesen. Besonders die sozialen Verhältnisse wurden mitunter in unnuancierten Lobeshymnen zu Schilderungen paradiesischer Verhältnisse, und das Wort „Paradies“ tauchte auch in mehr als einem Schwedenbericht der ersten Nachkriegsjahre auf.

Nun läßt sich natürlich dieses Unvermögen zur sachlichen Darstellung, das durch lange Jahre für viele Schwedenberichte charakteristisch war, psychologisch leicht erklären. Die aus politischen oder rassischen Gründen Verfolgten waren mit knapper Not der Hölle des Dritten Reiches entronnen; im Vergleich mit ihr mußte das politische Klima Schwedens paradiesisch erscheinen, und im Vergleich mit dem Elend der ersten Nachkriegsjahre in Deutschland und Österreich war das Schweden der vierziger Jahre der siebente Himmel. Daß sie auch später zu keiner kritischeren Darstellung finden konnten und längst überholte Auffassungen weiterschleppten, daß sie in einigen wenigen Fällen die anti- hitlerische gegen die anti- deutsche Brille austauschten, war die Tragödie so manches deutschen Emigranten.

Die zerrissenen Nebelschleier

Inzwischen aber war in Schweden eine literarische Richtung groß geworden, die als unerbittliche Gesellschaftskritik begonnen hatte. Schriftsteller, wie Ivar Lo-Johansson, Eyvind Johnson, Jan Fridegärd, Vilhelm Moberg, der früh verstorbene Stig Dager- man, Rudolf Värnlund und Moa Martinsson — jeder von ihnen muß erwähnt werden, wenn von der neuzeitlichen schwedischen Literatur gesprochen wird —, hatten schonungslose Kritik an den sozialen Verhältnissen Schwedens geübt. Vom Werke Lo- Johanssons beispielsweise sagt man, daß es wesentlich zur grundlegenden Änderung der Lebensverhältnisse der verachteten „Statar-Klasse", der Landarbeiter, beigetragen hat. Vilhelm Moberg war durch lange Jahre der gefürchtete Kritiker oft peinlicher sozialer, moralischer und juristischer Mißstände. Die Schriftstellerin Moa Martinsson, deren vielleicht allzu umfangreiches Werk man keineswegs in allen seinen Teilen anzuerkennen braucht, schilderte ein Schweden der Not und der erschütternden Armut, wie es niemand außerhalb Skandinaviens kannte. Soziale Mißverhältnisse, Korruption, Verfehlungen in höchsten Kreisen, die Brüchigkeit einer glänzenden Fassade-die.--!Wahrheit hinter dem äußeren Schein — kein verantwortungsbewußter. Schriftsteller konnte daran unberührt vorübergehen.

Aber dieses Bild Schwedens paßte nicht mit jenem anderen Bild zusammen, das von den in den dreißiger Jahren nach Schweden gekommenen Emigranten der Welt übermittelt wurde. Es war in ihren Augen Beiwerk, temporäre Auswüchse, denen allzuviel Aufmerksamkeit zu schenken die Menschen außerhalb des Landes verwirren konnte, und deshalb verschwieg man sie.

Als die Zeit der Isolierung zu Ende gegangen war und man in Österreich und Deutschland wieder an andere Dinge denken konnte als an die unerläßlichen 1200 Kalorien pro Tag, fanden sich deutsche Verleger, die mit beiden Händen nach dem griffen, was in den langen und schicksalsschweren zwölf Jahren in Schweden an Werken der Literatur entstanden war. Daß die Namen der Autoren nicht bekannt waren, damit mußte man sich abfinden; man hatte ja so viel nachzuholen. Daß aber auch die übertragenen Werke nicht die geringste Resonanz beim deutschen Publikum fanden, das war eine bittere und kostspielige Lehre, auf die kein Verleger gefaßt gewesen war. Das Schwedenbild der Deutschen stammte aus der Zeit zwischen den Weltkriegen, zum Teil stammte es noch aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, die Emigranten hatten ihm einige neue, wunderbare Züge beigefügt, doch nichts davon stimmte mit dem überein, was ihnen jetzt als die Stimme Schwedens präsentiert wurde: An die Stelle der Mythologie und der politischen und sozialen Romantik war die Wirklichkeit getreten, und man zürnte jenen, die den Nebelschleier zerrissen hatten!

Daß die meisten der neuen schwedischen Autoren der Arbeiter- oder der Landarbeiterklasse entstammten, konnte den Mißerfolg der Introduktionsversuche im deutschsprachigen Raum nicht verhindern. Auch hat man es dort einigermaßen schwer, zu begreifen, daß diese Kritiker sehr gute Schweden sind und daß ihre Kritik auch gar nicht als „Volks- oder staatsfeindlich“, sondern als das gute Recht des Schriftstellers betrachtet wird. Von den genannten sind Pär Lagerkvist, Eyvind Johnson und Harry Martinsson Mitglieder der Königlich- Schwedischen Akademie, der auch noch die Schriftsteller Hjalmar Gullberg, Gunnar Ekelöf, Bo Bergman, Olle Hedberg und Sigfrid Siwerts angehören, die alle in ihren Werken ein starkes soziales Gefühl zeigen und zu den wirklich populären zeitgenössischen Schriftstellern gehören. Seit den Tagen der Selma Lagerlöf ist eben auf dem weiten Feld der schwedischen Literatur mehr geschehen, als sich so mancher kleine deutsche Buchhandelsgehilfe träumen läßt.

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