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Schwere Geburtswehen
Lateinamerika kann sich eben keine diffizilen Unterscheidungen leisten, da es sich in schweren Geburtswehen windet. Die jungen, zornigen Männer dieses Kontinents sind von einer gewaltigen Sehnsucht nach einer neuen, echten Identität erfaßt, die das große Thema delr sechziger Jahre bildet. Diese Erneuerung soll mit oligarchischen Strukturen aufräumeh, den Campe- sinos, die ein Leben außerhalb des Staatsbewußtseins, der Ökonomie und der Gesellschaft fristen, ein neues Dasein verschaffen und die indianische Vergangenheit, die mehr und mehr von den Überlagerungen der spanischen Conquista freigelegt wircf, in das kulturelle Erbe einbauen. In den letzten Jahren freigelegte Küstenkulturen, die sich auf 5000 vor Christus und früher ansetzen lassen, erfüllen das junge Latein- amerika mit wachsendem Vertrauen in die eigene Vergangenheit, welche die Hoffnung für die Zukunft nährt. Diesem Aufbruch hat der kolumbia nische Psychoanalytiker und Revolutionsmystiker Jose Gutierrez in seiner letzten Studie, „Aufstand gegen die Furcht“ (la revolucion contra el miedo), Ausdruck verliehen.
Echtheit, ser autentico, gehört gegenwärtig zum Wortschatz jedes jungen Gesellschaftskritikers, Dieser sehr vage definierte Begriff (vielen, die ihn gebtrauchen, ist die Verbindung zų Ortega y Gasset und darüber hinaus zur deutschen Philosophie, Scheler, Nietzsche, kaum bewußt) dokumentiert ausgezeichnet die Sehnsucht des jungen Lateinamerikas, von der erbärmlichen Gegenwart, von Armut, Oligarchien, Militärkasten und Hunger, befreit zu werden: wenn möglich auf dem Weg einer unblutigen, humanistischen Revolution; doch bleibt als letzter Ausweg immer das kubanische Modell.
Ein leerer Kontinent
Diese schöpferische Fähigkeit des neuen Lateinamerikas soll sich nach
Überzeugung einer sehr heterogenen Gruppe, die Freud ebenso umarmt wie Mara; und Nietzsche, auch auf die biologische Zeugungsfähigkeit des Kontinents erstrecken. Trotz einer Bevölkerung von bald 250 Millionen ist Lateinamecrika noch immer ein leerer Kontinent. Doch das Verdoppeln der Einwohnerzahl in den letzten 20 Jahren hat in den Gesellschaften mit semifeudalen Strukturen, die mit supermodernen Ansätzen koexistieren, Probleme geschaffen, an denen vor allem die Städte zu ersticken drohen. Im Jahre 2000 wird Lateinamerika gegen 750 Millionen zählen — und der leere Kontinent wird diese Zahl benötigen, um sein Potential entwickeln zu können. Jedoch die explosive soziale Situation hat vor allem die bisherigen politischen Eliten, welche um ihre Zukunft fürchten, die Diskussion um die Geburtenkontrolle aufnehmen lassen. Das Angebot der Vereinigten Staaten, dafür technische und finanzielle Hilfe zur Verfügung zu stellen, verkörpert für die linken und nationalen Radikalen den offenen Beweis eines „biologischen Imperialismus“, der sie in eine bizarre Allianz mit katholischen Bischöfen treibt: das junge Lateinamerika verficht nicht nur eine intellektuelle, sondern auch die biologische Kreativität! Gegen den ehemaligen kolumbianischen Präsidenten Alberto Lleras, der sich um die Einführung der Geburtenkontrolle in Kolumbien bemüht, verfaßte der Mexikaner Francisco Ce- rezo eine flammende- Anklage in einer der letzten Nummern der Zeitschrift „La Nueva Prensa“, deren Diktion und Inhalt vorzüglich die Haltung dieser Gruppen demonstriert: „Geburtenkontrolle ist ein politisches Problem, nicht ein ökonomisches. Es handelt sich dabei um nichts anderes als den raffinierten Versuch der Monopolisten, sich durch den Verkauf der Antibabypillen zusätzlich zu bereichern. Je mehr man über diese Frage nachdenkt, begreift man, daß hinter dieser Kampagne die Furcht der großen Industriemächte steht, durch das Wachstum der Bevölkerung in Asien, Afrika und Lateinamerika ins Hintertreffen zu geraten. Benötigt etwa die amerikanische Familie mit ihren durchschnittlich zwei bis drei Kindern eine Geburtenkontrolle? Diese Zahl entlarvt die Verfechtar von Kontroll- maßnahmen eindeutig. Es ist längst erwiesen, daß unser Problem nicht in einer Übervölkerung wurzelt, sondern in der ungerechten Verteilung der Güter. Die Industrienationen wünschen die Geburtenkontrolle, um ihren hohen Lebensstandard beibehalten und weiterhin unsere Rohstoffe zu niedrigen Preisen einkaufen zu können. Die Antibabypille soll dieses schmähliche System verewigen.“
Das Thema des „seamos auten- ticos“ klingt in diesen konfusen Zeilen wieder an, das wie kein anderes die gewaltigen, von Tag zu Tag wachsenden Frustrationen dieses Kontinents dokumentiert. Diese bitteren Gefühle bedrücken die jungen Lateinamerikaner um so mehr, weil sie sich der vielen Bande mit dem alten Europa bewußt sind, jedoch ständig erfahren müssen, daß auch die Europäer als „Gringos" handeln.
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