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Seele des Landvolks

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Jeder Mensch macht die Erfahrung, daß irgendein kleines, an sich alltägliches Erlebnis eine weit zurückliegende, längst vergessene Begebenheit wachruft oder Zusammenhänge aufhellt, die zwar längst schon in der Luft lagen, nur von diesen frappierend einfachen Gegebenheiten her wieder wie neu erscheinen.

Eines Tages fragte ich vor meiner Klasse Dorfjugend, die ein paar Wochen später die Schule verlassen und ins Leben treten wollte: „Wer ist jetzt in dieser Zeit der berühmteste Mann in unserm Dorf?"

Eine Anzahl Finger schossen empor, und ehe ich an einen der Schüler den Auftrag zur Beantwortung dieser Frage richten konnte, schwirrte es mir spontan aus mehreren Stimmen entgegen: „Der Traktorfahrer M. ist es!"

Ich muß sagen, einen Augenblick lang war ich überrascht. Aber während ich noch lächelnd diese voreilige Feststellung korrigieren wollte, stieg vor meinem Auge aus einer unbekannten Erinnerungstiefe ein ähnliches Bild herauf: es war dreißig Jahre früher, und da saß ich in. einer Schulbank, als eine fast wörtlich gleiche Frage fiel. Und damals hatte die Antwort aus meinem eigenen Munde, sekundiert von vielen Mitschülern, gelautet: „Der Botenfuhrmann ist es!“ Denn wie dieser mit seinen stolzen, getigerten Schimmelhengsten immer durchs Dorf fuhr, das war das Unübertrefflichste, daß es überhaupt geben konnte.

Hie Pferdelenker — hie Traktorführer!

Mir verging auf einmal das Lächeln, denn ich hatte jäh einen Blick hinter die Kulissen der großen Wandlerin Zeit getan, der mich einen Augenblick zitternd erschauern ließ.

Mit einer Schnelligkeit, die man an dem Ablauf früherer Jahrhunderte gemessen als rasend bezeichnen kann, wandelt sich die seelische Struktur des Landvolks. Seins- inhalte und Lebensvorstellungen, die durch Generationen fast konstant im Spiegel der Seele des Landvolkes aufleuchteten und den dörflichen Ablauf bestimmten, tauchen plötzlich unter oder werden mit einer unheimlichen Präzision absorbiert und umgewandelt, so daß die auf fast ewige Dauer gegründete Festigkeit des Bauerntums und damit des ganzen Landvolks zu wanken und davonzugleiten beginnt.

Davonzugleiten — wohin?

Darüber können nur Mutmaßungen und Prophezeiungen angestellt werden, zu denen die Entwicklung des Landvolks anderer Länder einigen Anhalt gibt. Da jedoch niemals auf der Welt die gleichen Voraussetzungen vorhanden sind, kann auch nie mit Evidenz auf die gleichen Wirkungen geschlossen werden.

Es ist ein einfaches und darum allzuoft gehörtes Wortspiel, von der „Verstädterung“ des Landvolks zu reden und sich dabei in die Brust zu werfen, daß man das „immer schon“ vorausgesehen habe — um dann noch einmal seine Tasse hinüber zu reichen und sich Tee einschenken zu lassen.

Bestehen denn alle Voraussetzungen für ein« regelrechte Verstädterung des Landvolks? Sind auf dem weiten, flachen Lande alle technischen, alle wirtschaftlichen und vor allem die Bildungsmittel vorhanden, um diesen Umwandlungsprozeß folgerichtig und möglichst reibungslos herbeizuführen?

In dieser Frage liegt zugleich schoty eine weitgehende Beantwortung: Sie sind nicht vorhanden! Auch die Stadt, wie wir sie heute vor uns sehen, ist ein Kulturgebilde, das — mindestens bei uns in Europa — fast tausend Jahre Entwicklungszeit hinter sich hat und darum auch ein kompakter, lebenskräftiger Organismus geworden ist. Daß zwischen Stadt und Land ein ständiges Geben und Nehmen stattfindet, ändert an dieser Grundtatsache nichts.

Einzelnen Menschen des Landes gelingt es auch, in einem viele Jahre langen, geistigen Bemühen und seelischen Hineinfinden sich Stadtkultur zu erwerben, doch in den innersten Regungen seines Wesens vermag er das Land niemals abzustreifen. Der großen Masse des Landvolks wird dies, trotz aller äußerlichen Anpassung, nie gelingen.

So kann im äußersten Fall nur von einer „Ver-Vorstädterung“ des Landes gesprochen werden, obwohl auch dieser Ausdruck überholt ist, seit die Vorstadt nicht mehr aufgeteilt werden kann in ein Villenviertel der Reichen und ein Elendsviertel der Armen, seit die Großstadt selber sich hinaus in das Grün auflösen und wieder „Land" werden will.

Das Ziel der geistigen und seelischen Entwicklung des Landvolks ist noch lange nicht klar erkannt und damit auch nicht durch einfache äußere Maßnahmen lenk- und abgrenzbar. Wer tiefer sieht, muß vielmehr ein Entgleiten feststellen, ohne bereits dessen Richtung zu kennen.

Wenn heute von Landflucht, von wirtschaftlichem Kampf des Landes, von Mechanisierung der Bauernarbeit gesprochen wird, so geht es doch im Grunde um etwas viel Tieferes — um die Seele des Landvolks! Wo ist die Stelle, die sich ihrer annimmt, die sie Zu ergründen versucht, die sie über den schmerzhaften Prozeß der Umwandlung der Landvolkstruktur heil und gesund hinwegführt? Der Politiker spricht der Politik und der Wirtschaftler der Wirtschaft den Primat des Lebens zu. Sie beide lassen, von wenigen, hervorragenden Ausnahmen abgesehen, die Seelenführung und die Kulturarbeit am Landvolk nur in der Rolle der schmückenden Ausstattung, aber nicht als innerste Szenenführung in deni großen Schauspiel des Volkslebens gelten. Immer wieder werden als einzige, ureigene Äußerungen der Seele des Landvolks der „schöne, alte Brauch“, die „altehrwürdige Sitte und Überlieferung“ angesehen, aber nicht ihre entscheidende, innere Formungskraft für die Generationen der Zukunft erkannt.

Der einzelne im Landvolk, fühlte sich unbewußt als leibseelisdies Wesen lebensstark und zukunftssicher. Seine Arbeit und sein Leben waren eins. Nun aber wird auch er von vielen Seiten her, von Umwelteinwirkungen durch Radio, Rundfunk, Zeitung und Fachschulen „gebildet", das heißt geformt. Die meisten dieser Bildner jedoch sind „Spezialisten". Die Einheit von Leib und Seele jedoch wird außerhalb der Kirdie zumeist nur noch als bloße rhetorische Redewendung eingefügt. So kann es kommen, daß die Jugend, die vor dreißig Jahren noch in ihrer Freude an der Bändigung des Tieres doch nie die Bedeutung dieses Wesens überschätzte und stets die natürliche Begrenzung gegen die Überbewertung erkannte, heute in ihrer Freude an der Maschine, am Traktor gar nicht mehr zu der Erkenntnis kommt, daß dahinter weit weniger als ein lebendes Wesen, nämlich nur ein leeres, mechanisches Getriebe steckt. Dieses mächtige Maschinenwesen zu bändigen und zu lenken, weckt eine neue Sicherheit, die sich ganz allmählich abhebt von der überkommenen Gewißheit des Religiösen. Zwischen dem unbewußten, lebensrichtigen Handeln und dem bewußten Erkennen der Gottgebundenheit des Lebens tut sich eine Kluft auf, über die die schwachen Brücken aus fachlicher Spezialisierung und Allerweltshalbbildung keinen tragbaren Bogen mehr zu spannen vermögen. Die Maschinen- und die bloße Wirtschaftsgläubigkeit tritt immer mehr an die Stelle des traditionellen religiösen Gefühls, dessen Worte noch vorhanden sind, dessen Sinn aber unter dem verwirrenden Ansturm der äußeren Welt entleert wird.

Die Kirche als die wesentliche Wahrerin und Hüterin der Seele des Landvolks vermag nicht mehr in alle Bezirke des bäuerlichen Lebens einzudringen. Hier begin die große Aufgabe der neuen ländlichen Bildungsstätten. ' Sind diese überhaupt ausreichend vorhanden? Es wird nur der geringste Prozentsatz der bäuerlichen Menschen durch sie erfaßt, während alle übrigen sich „wild" und dem Zufall überlassen an der Umgebung und an den technischen Einrichtungen zu bilden bestrebt sind.

Wo aber ein ländliches Bildungszentrum entsteht, dort ist auch die Möglichkeit zu einer Änderung der Lebensform gegeben. Da kann sich die Erkenntnis der wahren Lebensinhalte vertiefen und die Seele des Landvolks wird wieder irt'dem Spiegel ihres Daseins aufleuchten.

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