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Seelenverkäufer werden selten

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Alte Matrosen gehen in Pension. Hocken abends täJUfi der Bank vor ihrem. Haus,' setzen umständlich ihre Pfeifen in Brand, versichern in Ehrfurcht ersterbenden Enkelkindern, sie seien auf allen' Meeren gefahren, und spinnen ihr Garn. Alte Schiffe hingegen. werden zerlegt. Ausgeschlachtet. Verschrottet. An der Waterkant sagt man: Abgewrackt. Mit alten Schiffen passiert genau. genommen dasselbe wie mit alten Autos! Dasselbe, aber mit einem Hauch von Romantik, obwohl der Vorgang an sich sehr realistisch, ist

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Alte Matrosen gehen in Pension. Hocken abends täJUfi der Bank vor ihrem. Haus,' setzen umständlich ihre Pfeifen in Brand, versichern in Ehrfurcht ersterbenden Enkelkindern, sie seien auf allen' Meeren gefahren, und spinnen ihr Garn. Alte Schiffe hingegen. werden zerlegt. Ausgeschlachtet. Verschrottet. An der Waterkant sagt man: Abgewrackt. Mit alten Schiffen passiert genau. genommen dasselbe wie mit alten Autos! Dasselbe, aber mit einem Hauch von Romantik, obwohl der Vorgang an sich sehr realistisch, ist

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Zuerst kommen Männer und sehen nach, was zurückgeblieben ist. An Seekarten, Möbeln, Geräten. Dann kommen die Männer mit der Spitzhacke. Pardon, ein altes Schiff ist kein altes Haus. Es kommen dann also die Männer mit dem Krampen. • Mit Schraubenziehern und Sägen, Stemmeisen und Vorschlaghämmern. Sie lösen die Aufbauten vom Deck. Schrauben die Bootsgalgen ab. Und daneben die Funkbude, ohne Geräte zwar, aber der Peilring steht noch oben auf dem Dach. Das Deck ist abgehoben. Der Maschinenraum liegt frei. Der schwere Dieselmotor wird abmontiert. Ein paar große Schrauben sind festgefressen. Das Schiff will seine Eingeweide nicht hergeben. Macht nichts, der Kran reißt sie ihm samt Kabeln und Rohrsträngen mit einem Ruck aus dem Bauch. Man darf nicht glauben, daß die alten Schiffe ganz und gar zu Schrott gemacht und eingeschmolzen werden. Es. ergeht ihnen genauso wie den alten Autos. Verschrottet wird nur, was absolut nicht mehr anders verwendet werden kann. Die eisernen Treppen, die vom Deck zum Kesselraum hinunterführen. Oder hinauf zur Brücke. Vielleicht kommt eines Tages einer von jenen uralten Kähnen, die nach jeder Fahrt mühsam zusammengeflickt werden, und benötigt Ersatz für seine verrosteten Treppen, die bei jedem Schritt durchzubrechen drohen.

Ein Satz Entlüfter. Jene charakteristischen, nach vorne zu Mäulern umgebogenen Röhren. Noch dazu von einem Liberty-Schiff aus dem zweiten Weltkrieg, wo jeder Teil genormt ist und ausgetauscht werden kann. Sie werden einen finden, der sie nimmt.

Denn so manches alte und klapprige Schiff wird mit Ersatzteilen repariert, die von Schiffen stammen, die viel weniger alt und klapprig waren. Eines Tages fährt so ein alter Kahn In einen Hafen ein und kann nicht mehr hinaus. Ein kleinerer Schaden an der Maschine. Also los, hinüber zur Reparaturwerft. Natürlich nicht mit eigener Kraft. Kennen Sie den Blick des Uhrmachers, Sekunden vor dem schicksalsschweren Satz „Die könnens wegschmeißen?“ Oder den Blick des Autoschlossers, bevor er sagt: „Lassen S' ihn lieber verschrotten!“? Mit dem gleichen Blick inspiziert der. Mann von der Reparaturwerft das Schiff. Er entdeckt, daß der Schiffsboden an ein paar Stellen durchgerostet ist. Daß die Maschine zwar repariert werden kann, aber wahrscheinlich nach ein paar hundert Seemeilen wieder streiken wird. Er denkt „Seelenverkäufer!“ und sagt dem Kapitän einen schweren Steuerschaden für die allernächste Zukunft voraus. Und erzählt ihm damit nichts Neues. Der Kapitän weiß genau, was mit dem Kasten los ist. Er könnte dem Ingenieur von der Reparaturwerft noch ein paar Schäden zeigen, die der in der Geschwindigkeit übersehen hat. Telegramm an die Reederei: „Liege mit schwerem Maschinenschaden fest. Schlage Verkauf an Abwrackwerft vor.“

Die Antwort besteht aus einem Wort: „Einverstanden!“ Kann sein, daß mit den Teilen der Ruderanlage die noch desolatere eines Schiffes, dessen Reederei das oben zitierte Telegramm mit dem Text „Verkauf kommt nicht in Frage. Flicken!“ beantwortet hat, notdürftig wieder in Gang gesetzt wird.

Die Seelenverkäufer werden seltener.

Aber sie sind noch nicht ausgestorben.

Die meisten alten Schiffe werden allerdings nicht in der Fremde, sondern im Heimathafen abgewrackt. Oder „entkleidet“ (dismantled), wie das auf Englisch heißt. Viele Schiffe, die abgewrackt werden, könnten noch eine ganze Weile fahren. Sind nicht einmal schadhaft. Sind nur unrentabel geworden und dem Konkurrenzdruck nicht mehr gewachsen. Man wirft heute noch ganz brauchbare Schiffe weg, so, wie man sich auch immer früher von den alten Autos trennt. Als Gattung stehen beispielsweise die guten alten „Seitenfänger“ ganz oben auf der Liste derer, die dem unbarmherzigen Ausleseprozeß jetzt zum Opfer fallen. Seitenfänger sind Fischereifahrzeuge, die — im Gegensatz zu den modernen „Heckfängern“ — das volle Netz über die seitliche Bordwand an Deck ziehen. Seitenfänger müssen, wenn es kalt wird, die Arbeit früher einstellen als die Heckfänger. Vor allem aber bringen sie keine Tiefkühlware, sondern Fisch, der sofort auf dem Markt verkauft werden muß. Aber auch den riesigen, luxuriösen Passagierschiffen, einst Stolz der Nation, geht es an den Kragen. „Man“ fährt nicht mehr mit dem Schiff über den Atlantik, sondern „man“ fliegt. Schiffe, die nur im Liniendienst und nicht auch für Kreuzfahrten verwendet werden können, liegen ihren Reedereien schwer in der Tasche. Das' tägliche Brot der Abwrackwerft sind diese riesigen Brocken natürlich nicht.

Kessel. Ballasttanks. Ventile. Alles schön geordnet auf Haufen. Kann alles noch eines Tages gebraucht werden.

Masten zu Masten. Tauwerk zu Tauwerk. Seekarten zu Seekarten, Kreiselkompasse zu den Kompassen, Kochtöpfe zum Geschirr. Die Seekarten sind meist noch an Bord, wenn das Schiff seine letzte Fahrt beendet hat und in die Abwrackwerft geschleppt wird. Sie werden in einem Schuppen zu den anderen gelegt. Die Deutsche Bucht ist stoßweise vorhanden. Oder diese hier? Offenbar war der Kapitän ein ordentlicher Mann, der Flecken auf seinen Karten nicht mochte. Oder hatte er sie erst kurz vor dem Verkauf des Schiffes neu angeschafft? Doch lieber diese hier? Man sieht ihr an, daß sie manchen Sturm überstanden hat. Und wenn das Wetter windstill war, pflegte der ' Käpt'n offenbar jahrelang hier in der Ecke der großen Karte seine Kaffeetasse abzustellen. Rand neben Rand. Wie Jahresringe.

Und hier — naja, bei schwerer See kann auch einmal ein Butterbrot auf den Kartentisch klatschen. Dazwischen ein Kartenblatt der Karibischen See aus dem Jahre 1930, vollgeschmiert mit Blau- und Rotstift. Eine Karte der Hafeneinfahrt von Lissabon. An einigen Stellen ist das Papier völlig abgeschabt, so oft wurde hier der Kurs abgesteckt. Uberhaupt scheint das Papier oft wurmstichig zu sein. Aber der Schein trügt. Die Löcher stammen vom Zirkel.

Ein lederbezogener, drehbarer Kapitänsstuhl. Derlei findet schnell einen Liebhaber. Oder eine Positionslaterne mit Eisengitter und dickem Glas. Vielleicht wird sie bald als Gartenlaterne dienen, pardon, heut' sagt man Partylicht. Rettungsringe mit den Namen aller möglichen und unmöglichen Schiffe. Auch Kompasse, Signalwimpel, Schwimmwesten und rotgestreifte Bettdecken sind beliebt. Alles garantiert ohne Flöhe und Kakerlaken. (Kakerlaken sind Schaben oder sehen zumindest so aus.) Der unbrauchbare Rest wird zerkleinert. Dazu hat die Abwrackwerft den Fallturm, dessen Wände dick gepanzert sind. Schiffsteile, die zu massiv sind, um mit dem Schneidbrenner zerschnitten zu werden, werden vom Kran auf eine mächtige Stahlplatte gelegt und von einer immer wieder hochgezogenen, immer wieder heruntersausenden Eisenkugel zerschlagen. Das Metall schreit unter der Wucht der Schläge, und die Trümmer fliegen wie Granatsplitter durch die Luft. Wie ein riesiger Hammer preßt und biegt die Kugel das Metall zu einem handlichen Paket zusammen, das man mit dem Greifer leicht in den Schmelzofen schieben kann. Durchschnittlich einen Monat dauert die Zerlegung und Ausschlachtung eines größeren Schiffes von der Mastspitze bis zum Kiel. Doch damit ist es nicht getan. Wenn die Abwrackwerft der auch auf diesem Gebiet nicht untätigen Konkurrenz ein Schnippchen schlagen will, muß sie mehr tun als Altmaterial ordnen und auf Käufer warten, die zufällig des Weges kommen. Sie begnügt sich auch nicht damit, den Schrott in der eigenen Gießerei zu Barren zu schmelzen und die schadhaften Rettungsboote der alten Schiffe zu reparieren und neu zu streichen (denn auch Rettungsboote gibt es aus zweiter Hand billiger). Der Mann, der eines Tages in der Abwrackwerft erschien und eine funkelnagelneue Kabine für eine ebenso funkelnagelneue, noch nicht einmal fertiggestellte Jacht kaufen wollte, hatte sich keineswegs in der Adresse geirrt. Im Gegenteil. Er wußte besonders genau Bescheid. Der Inhaber des Abwrackunternehmens für Schiffe nahm die Pfeife aus dem Mund, stand auf und meinte: „Kommen Sie mal mit, ich zeige Ihnen etwas. Sie haben Glück!“ Schließlich kann man einem ausgedienten alten Kahn das Schicksal aller schrottreifen Schiffe nicht nur deshalb ersparen, weil um die Luxustäfelung der Kapitänskajüte jammerschade wäre. Teuerstes Holz, erlesene Maserung. In solchen Fällen gehen die Schiffsverschrotter rund um die Kapitänswohnung behutsam zu Werk. Und die abmontierten Latten werden sorgfältig in einem eigenen Raum gelagert. Erstens, damit sie nicht Beine bekommen, zweitens, weil es so leichter ist, einen Interessenten, dem man sie zeigt, von ihrem Wert zu überzeugen.

Schließlich hat er wirklich Glück. Eine Jachtkajüte aus neuem Holz solcher Qualität würde, na, sagen wir — also, jedenfalls viel mehr kosten. Und wäre nur halb so romantisch. So hat wenigstens der eine oder andere Bestandteil eines schrottreifen Kastens die Chance, nicht nur der Zerstörung zu entgehen, sondern sogar noch einmal mit Sekt begossen zu werden.

Das nächste Schiff. Abgewrackt, weil es zu alt war oder zu langsam oder zu klein. Weil es zuviel Personal benötigte. Weil es von der Versicherungsgesellschaft scheel angesehen wurde, was sich bei kostbarer Fracht in Form eines spürbaren Risikozuschlages auf die Prämie bemerkbar macht. Oder weil es keine Passagiere neben der Fracht mitnehmen konnte. Weg damit. Der Ingenieur sieht sich die Baupläne an, falls sie noch existieren. Falls es sich um ein sogenanntes Liberty-Schiff handelt, hat er sie ohnehin im Kopf, diese Type, für die Geleitzugsfahrten des zweiten Weltkrieges geschaffen, kommt ihm jetzt oft unter. Er zerlegt das Schiff im Geist in seine Teile. Nimmt ein Blatt Papier und berechnet das Gewicht der einzelnen Metallsorten. Überlegt, was man noch brauchen kann und was nicht. Denn die Abwrackwerften kalkulieren fast so genau wie die Werften, die neue Schiffe bauen. Eine Weile liegt dann das alte Schiff vielleicht noch am Pier schief im Wasser und träumt von ruhmreicheren Tagen.

Es klingt wenigstens gut, das zu sagen.

In Wirklichkeit wird hier weder von stürmischen Fahrten noch von sonst was geträumt. Blech, Gußeisen, Messing und sonstiges Altmaterial liegt zur Verwertung bereit. Noch hat es die Form eines Schiffes.

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