Sehen können: das Geheimnis der Kunst

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Vor 150 Jahren wurde Herman Bang geboren. Seine Erzählungen und Reportagen kann man noch heute mit großem Gewinn lesen.

Der Schriftsteller als Dandy und Flaneur - in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren solche Figuren keine Seltenheit. Am bekanntesten ist Oscar Wilde, der in London lebte und in seinen Gesellschaftskomödien die britische Oberschicht karikierte. In den letzten Jahren haben Verfilmungen, beispielsweise von The Importance of Being Earnest und An Ideal Husband, für zusätzliche Popularität gesorgt.

Das dänische Pendant heißt Herman Bang, geboren 1857, also drei Jahre jünger als Wilde. Eine weitere Parallele drängt sich auf: beide waren homosexuell und wurden wegen ihrer Orientierung geächtet, Wilde musste sogar ins Gefängnis. Auch Bang produzierte Skandale, bereits sein erster Roman Hoffnungslose Geschlechter von 1880 wurde wegen der freizügigen Darstellung erotischer Handlungen verboten. Anfang 1912 starb Bang auf einer Lesereise durch die USA, vermutlich an den Folgen seines Drogenkonsums.

Im Gegensatz zu Wilde ist Bang nur noch wenigen bekannt. Das mag mit der schwierigen Konkurrenz zum englischen Sprach-und Kulturkreis zu tun haben, dürfte aber wohl auch auf das größere, heute nicht mehr ganz zeitgemäße Pathos von Bangs Schriften zurückzuführen sein. Vom Stil her ist der Autor stärker dem Realismus verpflichtet, von der Wahl seiner Themen eher dem Naturalismus. Eine Auswahl von Bangs Erzählungen und Reportagen hat jetzt der Insel-Verlag herausgebracht, Ulrich Sonnenberg hat sie ediert und mit einem kundigen Nachwort versehen.

Satirisch-entlarvend

Der erste Teil des Bandes ist dem Erzähler Bang gewidmet. Wegweisend für die Zeit sind das soziale Engagement der Texte einerseits, die satirisch-entlarvende, aber (wie bei Wilde) selten bösartige Darstellung der höheren Gesellschaftsschichten andererseits. Sonnenberg schreibt im Nachwort, er habe eine Auswahl getroffen, die zeitlich und inhaltlich die Bandbreite von Bangs Erzähltexten demonstriere. Den Auftakt macht Stille Existenzen, eine melancholische Miniatur. Der alte Pastor Skeel und seine Frau leben in einem kleinen Häuschen ein genügsames Leben, von ihrer Umgebung werden sie wegen ihrer Schrullen belächelt. Der Erzähler blendet zurück und schildert, wie aufopferungsvoll sich Skeel um die Seelsorge in Grönland verdient gemacht hat. Taub wurde er durch einen Unfall während der Fahrt in eine einsam gelegene Kolonie. Auch das einzige Kind starb. Jetzt verbringt er seinen Lebensabend mit der Herausgabe eines grönländischen Gesangbuches. Trotz oder wegen der schweren Schicksalsschläge strahlt das Ehepaar eine stille Heiterkeit aus. Indem er seinen Erzähler die Vorgeschichte der beiden erzählen lässt, führt Bang vor, wie schnell man sich durch einen ersten Eindruck täuschen lassen kann.

Die Erzählung Pernille von 1899 deutet auf die Texte Arthur Schnitzlers voraus. Die junge Pernille verliebt sich und lässt sich verführen, um am nächsten Tag einen trockenen Brief des Verehrers zu erhalten, es sei alles nur "ein Spaß" gewesen. Vor dem Altar von 1880 ist eine wunderbar bissige Satire auf Konventionsehen. Während die Brautleute vor dem Pastor stehen, denken sie über ihre geheimen Wünsche und enttäuschten Hoffnungen nach. Der Bräutigam findet die Braut attraktiv genug, um sie gegen die Geliebte zu tauschen; die Braut muss sich verheiraten lassen, um ihren Vater zu sanieren - wieder eine Parallele zu Schnitzler, etwa zu Fräulein Else.

Augen für Missstände

Der zweite Teil des Bandes enthält ausgewählte Reportagen. Bei der Lektüre ist man erstaunt, wie sehr das Gelesene an Egon Erwin Kisch erinnert, den sprichwörtlichen "rasenden Reporter", der seine journalistische Karriere als 19-Jähriger 1904 in Prag begann, zu einer Zeit also, als Bang bereits ein bekannter Autor war. Kischs Reportagen sind fraglos moderner, aber auch deutlich später entstanden. Beide verbindet der Versuch, schonungslos Missstände offen zu legen. Bangs Armenleben aus der Nationaltidende von 1880 zeigt mit dem unbestechlichen Auge des Reporters, unter welchen menschenunwürdigen Bedingungen Arme in Kopenhagen leben mussten. Ihre Existenz lässt sich auf eine einfache Formel bringen: "Hungern ist ihr Leid - sich satt zu essen das Glück ihres Lebens." Den Europäern mag es seither gelungen sein, die elementarsten Bedürfnisse der eigenen Bürger zu befriedigen; doch mahnen solche Worte daran, dass es noch genug Gegenden gibt, in denen ähnliche Beobachtungen zu machen wären.

"Sehen können … Ja, das ist das ganze Geheimnis der Kunst", diesen Satz Herman Bangs hat Ulrich Sonnenberg als Motto für sein Nachwort ausgewählt. Wer sich für die zwischen Realismus und Naturalismus angesiedelte Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts interessiert, wer ihre literarische Qualität ebenso wie ihre Aktualität zu schätzen weiß, der kann Dickens und Wilde, Ibsen und Zola, Schnitzler und Wedekind, Fontane und Hauptmann, aber auch Herman Bang heute noch mit großem Gewinn lesen.

Exzentrische Existenzen

Erzählungen und Reportagen

Von Herman Bang. Hg. und übers. von Ulrich Sonnenberg. Insel-Verlag, Frankfurt / Leipzig 2007

369 Seiten, geb., € 23,50

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