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Sehnsucht nach Enthusiasmus

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Ein Dramenheld des zornigen jungen Engländers John Osborne ruft einmal aus: „Herrgott, wie ich mich nach etwas Enthusiasmus sehneI“ Verzweifelt über seine Unfähigkeit, sich für etwas, zu begeistern, aber zugleich doch unwillig, nach einer Aufgabe zu suchen, an der sich vielleicht seine Sehnsucht nach Enthusiasmus entzünden könnte, spürt er doch bereits, daß es jenseits der Skepsis etwas geben könnte oder wenigstens geben sollte, für das es sich lohnen würde, zu leben.

DIE BEIDEN ELITEN jtrfW . ,.„itr ,.r .1. jjfp.

Solch hilfloser Ueberdruß schöner, aber unschöpferischer, daher chronisch vergrämter Seelen, der bei den Geschöpfen wie auch den Schöpfern der literarischen und künstlerischen Avantgarde so häufig zu finden ist, steht in bemerkenswertem Gegensatz zu der oft geradezu hektisch anmutenden Aktivität der naturwissenschaftlichen und technischen Elite unserer Zeit. Ihr mangelt es weder an präzisen Aufgaben noch an energisch verfolgten Zielen. Die Objekte ihres Forschungsdranges und Konstruktionswillens scheinen schier unerschöpflich zu sein. „Neuheit“ hat in diesen Kreisen keinen Seltenheitswert. Sie muß nicht durch Originalitätshascherei erkrampft werden, sondern wächst nicht nur den Besten, sondern sogar den Mittelmäßigen als fast selbstverständliche Frucht des Fleißes zu.

Dennoch werden nur die „Routiniers“ unter den Physikern, Chemikern, Biologen, den Erfindern und Ingenieuren ihrer erfolgreichen Tätigkeit wirklich froh. Die hervorragendsten Forscher und Techniker aber sind gleichfalls von einer Malaise erfaßt. Sie suchen nach Sinn und Form für die Ueberfülle des Neuen, das aus ihren Laboratorien und Werkstätten quillt. Auch in ihnen lebt eine Sehnsucht nach Enthusiasmus, die nur befriedigt werden könnte, wenn sie sich als Mitarbeiter an etwas Umfassenderem sehen würden, etwas über ihre Spezialarbeit Hinausgehendem und Größerem.

DIE „WISSENSCHAFTLICHE REVOLUTION“ SUCHT WEISHEIT-' •

Während Dichter, Künstler und Philosophen daran leiden, daß es ihrem Schaffen heute versagt zu sein scheint, die Welt noch zu verändern, beginnen Wissenschaftler und Ingenieure vor den manchen unvorhergesehenen und entweder gar nicht oder zu spät erkannten Veränderungen, die ihre Arbeit bewirkt, zu erschrecken. Sie verlangen nach den „Humanisten“, damit diese ihnen Beistand leisten, aber von dort kommt vorläufig keine Antwort. So ist zum Beispiel der Ruf des „Parlaments der amenkanisehen Wissenschaftler“, Naturforscher aller Fakultätn, die dieses Jahr in Washington zu-sammentraten, bisher ungehört verhallt. Dort hieß es in der Schlußresolution:

„Auf unsere Erforschung des Atomkernes folgt etwas Neues. Wir treten nun in ein Stadium beschleunigten Fortschritts ein, das uns die Möglichkeit der Herrschaft des Menschen über seine Umwelt, sich selbst und sein Schicksal bringen wird. Wir stehen an der Schwelle einer Durchdringung und Beherrschung der Zelle und des Geistes. Wir sagen, daß der Mensch am Beginn einer neuen Beziehung zum Atom, zur Zelle, zu sich selbst und zum Universum steht.,. Diese neue Beziehung aber stellt Forderungen an alle im Menschen steckenden Quellen und Kräfte. Sie verlangt nach Weisheit, Maß und Gesittung.“

ANALPHABETISMUS DER GEBILDETEN

Es ist also heute keineswegs mehr so, daß die „wissenschaftliche Revolution“ blind und verantwortungslos ohne Rücksicht und Bedenken ürren Weg fortsetzen will. Aber gerade jene Menschen, denen die Pflege von „Weisheit, Maß und Gesittung“ anvertraut ist, zeigen sich bisher ihrer großen Aufgabe einer Bändigung und Formung des bestürzenden und sich überstürzenden Neuen in keiner Weise gewachsen. Denn sie sprechen ja meist nicht einmal die Sprache jener

•Anderen“, die den „Fortschritt machen“. Sie .iud in der „neuesten Welt“ der mathematischen Formeln und Blaupausen einfach Analphabeten, feien sie auch im übrigen hochgebildet.

Hier-wäre zunächst einmal eine große Erziehungsaufgabe zu leisten. Gerade die Nicht-wissenschaftler und Nichttechniker haben heute viel nachzuholen, damit sie überhaupt verstehen lernen, was in unserer Zeit vorgeht. Das verlangt durchaus kein Spezialstudium, keine besondere Berufsausbildung, sondern nur eine lebensnotwendig gewordene Erweiterung der Allgemeinbildung.

AUF EINEM NEUEN KONTINENT

Wer als Künstler oder Geisteswissenschaftler auch nur die Anfangsgründe naturwissenschaftlicher und technischer Information gemeistert hat, dem öffnet sich plötzlich jener neue, wilde, ungebändigte Erdteil, den Forscher und Ingenieure in den letzten drei Jahrzehnten erschlossen mit einer kaum zu bewältigenden Fülle von Eindrücken und Aufgaben. Nun besteht allerdings die Gefahr, daß er der Faszination dieser jungen, unbedenklich und unbekümmert vorwärtsdrängenden Welt erliegt. Dieser Verlockung zu widerstehen, dem, was — nach einem Geständnis von Robert Oppenheimer — „technisch süß“ ist —, nicht anheimzufallen, ist die erste Bewährungsprobe des humanistischen Pioniers in der ihm noch ungewohnten Umwelt der Laboratoriumsproben, Elektronengehirne und Apparaturen. Erst wenn sie einmal die Versuchung zur „Anpassung“ überwunden haben, werden „Neulinge von der anderen Seite des Meeres“ beginnen können, Maß und Gesetz ins „Dschungel“ einer wertfernen ungebändigten Welt zu tragen.

Die besten Bundesgenossen dieser „Avantgarde“ des Menschlichen im Neuland, das Forschung und Technik eroberten, werden die Forscher und Techniker selber sein. Nur wenige von ihnen glauben heute noch an eine „Diktatur der Wissenschaftler“, von der H. G. Wells träumte, oder eine „Technokratie“. Sie sind nicht nur bereit, mit den „anderen Fakultäten“ zusammenzuarbeiten, sie bitten sogar um die Hilfe der „Geistigen“.

Die amerikanische Pädagogin Agnes E. Meyer hat in ihrem Buch „Education for a New Mora-lity“ geschrieben: „Wir brauchen die Propheten einer tapferen neuen Welt. Nicht jener Welt, die Huxley schilderte, sondern einer, die wirklich tapfer und wirklich neu wäre. Aber bevor diese Genies auf der Weltbühne erscheinen, sollten die Fachmänner der Natur- und Gesellschaftswissenschaften zusammen mit den Humanisten vorbereitende Arbeit leisten... Wir müssen einen Humanismus schaffen, der wissenschaftlich ist und eine Wissenschaft, die human ist.“

BRÜCKENSCHLAG ZWISCHEN ZWEI KULTUREN

Der Beginn solcher Zusammenarbeit könnte sofort an allen Universitäten gemacht werden. Dozenten und Studenten verschiedener Fakultäten sollten gemeinsam „Modelle“ einer menschlicheren Zukunft entwerfen. Sie könnten sich fragen: Wie sieht die humane Stadt von morgen aus? Wie soll die humane Fabrik, wie soll das humane Büro von morgen beschaffen sein? Aus solchen akademischen „Werkstätten“ könnten wegweisende Leitbilder hervorgehen, die es denen, welche in der täglichen Wirklichkeit zu entscheiden haben, erlauben würde, ihre Wahl nicht mehr blind, sondern voraussehend zu treffen.

C. S. Lewis hat den Fortschritt einmal definiert als „Bewegung in einer gewünschten Richtung“. In den vergangenen drei Jahrhunderten haben wir zwar die „Bewegung“ gespürt, aber das „Wünschen“ fast verlernt. Die heute noch fehlende, aber notwendige „Avantgarde“, welche Brücken zwischen den beiden Kulturen, der alten humanistischen und der neuen technischen, schlagen könnte, würde dabei nicht nur ihren Mitmenschen, sondern auch sich selbst helfen. Denn in dieser großen Aufgabe fände sie wohl endlich Erlösung von ihrer Sehnsucht nach Enthusiasmus.

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