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SEHNSUCHT UND ENTTÄUSCHUNG

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Ein charakteristisches Element der zeitgenössischen slowakischen Literatur ist eine Vielfalt von Stilen und Gattungen als Ergebnis einer ungewöhnlichen schöpferischen Aktivität; ja, man könnte geradezu von einer Eruption der Literaturkräfte sprechen. Es gibt keine einheitliche künstlerische Strömung: nebeneinander und oft gegeneinander wirken Tendenzen, die auf den ersten Blick unvereinbar sind; die Literatur — um die Worte von Andre Malraux zu gebrauchen — wendet sich nicht an alle, sondern an jeden.

Um diesen komplizierten Prozeß näher zu bestimmen, möchte ich als einfachsten Ausgangspunkt den Generationsunterschied nehmen. Die heute Zwanzig- und Dreißigjährigen unterscheiden sich mit ihrer Literaturauffassung grundsätzlich von den Vierzig- und Fünfzigjährigen. Die Jungen legen das Hauptgewicht auf den Menschen als solchen, die Älteren betonen die historische Bedingtheit der menschlichen Existenz, ihre Fähigkeit, die sie umgebenden Verhältnisse zu ändern; die Jungen begreifen die destruierte Wirklichkeit als dauerndes Phänomen und die menschliche Machtlosigkeit den anonymen Kräften gegenüber als Schicksal des einzelnen in jeder zivilisierten Gesellschaft, die Älteren fassen diese Destruktion und Machtlosigkeit als vorübergehende historische Erscheinung auf; interessiert die Jungen auch die Irrationalität des menschlichen Seins, so sind die Älteren durch und durch Rationalisten. Das sind natürlich die entferntesten Pole, zwischen denen es Platz genug für jeden Literaturtyp gibt, von Moralitäten und zeitgebundenen Aktualitäten bis zu Werken, deren Sinn über die konkrete gesellschaftliche Realität hinausweist und als allmenschliche Metapher aufgefaßt werden muß.

Ote Fünfzigjährigen und Älteren stellen besonders in der Poesie ein abgeschlossenes Kapitel dar, dessen schönste Stellen bereits geschrieben wurden; dies soll natürlich nicht bedeuten, daß sie bereits am Ende ihrer schöpferischen Kräfte angelangt sind. Es sind „lebende Klassiker“ — wie wir sie bei uns oft nennen — und in ihrem Weltbild sind ganz natürlich Vergangenheit und Gegenwart verbunden und vermischt, sie analysieren nicht, sie rekapitulieren und synthetisieren. In der Poesie dieser Generation geht es meistens um Reflexionen über das Thema Enttäuschung, Vergänglichkeit und Lebensbejahung, um Reflexionen, die nicht das Ergebnis plötzlicher dichterischer Einfälle, sondern einer abgeschlossenen Lebensauffassung sind. Viele von ihnen waren leitende Persönlichkeiten der slowakischen Literatur — für viele sei hier Laco Novomesky genannt —, die die Richtung der künstlerischen Entwicklung bestimmten oder sie wenigstens in entscheidender Weise beeinflußten. Ihre Werke haben sich natürlich bis heute ihre grundlegende Bedeutung erhalten. Wenn diese Dichter auch im Augenblick nicht im Mittelpunkt des Interesses der Literaturkritik stehen, die sich eher auf die

Festigung der Positionen der jüngsten Generation konzentriert, wirken sie doch stets als unsachtbares Korrektiv der künstlerischen Auswüchse, als Persönlichkeiten mit großem etliischem Kredit.

Ein wenig anders ist es mit den Prosaiken dieser Generation. Die philosophischen Ausgangspositionen sind ungefähr dieselben, doch der Umkreis ihres Denkens und der künstlerischen Interessen ist unvergleichlich breiter und gesell-schaftsbezogener. Sie erfaßt heute schon historische Stoffe, besonders den Krieg und den slowakischen Nationalaufstand. Zugleich ist sie im Grunde genommen auch die einzige, die den Versuch unternommen hat, episch und philosophisch die Zeit des Personenkultes zu rekonstruieren und zu analysieren. Das ist gewiß kein Zufall, denn gerade diese Generation war „mitten drin“, kannte die Tatsachen aus eigener Erfahrung und mußte vor dem eigenen Gewissen verschiedene brennende Fragen beantworten. Ein typischer Grundzug der Prosa dieser Generation ist das ethische Pathos, das das Gefühl der Mitverantwortung für das Schicksal der Nation hervorgebracht hat; demselben Gefühl entspringt auch ihr Kritizismus, ihre soziale Engagiertheit. In dieser Prosa wurde der Held abgeschafft: seinen Platz nahmen Menschen aus Fleisch und Blut ein, die vor allem sich selbst repräsentieren und dann auch gesellschaftliche Gruppen und Klassen. Von den repräsentativsten Vertretern dieser Generation möchte ich wenigstens die Namen Vladimir Minäc, Alfonz Bednar, Dominik Tatarka, Ladislav Mnacko, Ladisliv l'azky anführen.

Doch die Deheroisierung der Gestalten wurde erst in der jungen Generation vollkommen. Die Prosa der jungen slowakischen Literatur will nichts über die Epoche aussagen, sie will nicht reformieren und nicht revolutionieren: sie will die Situation des Menschen nach gewissen philosophischen Modellen gestalten. Breite historische Relationen interessieren sie nicht, sie ist am privat Menschlichen interessiert, die Gesellschaft ist hier eher getrennte Existenzen als homogene Einheit. Die junge Generation der Prosaiker strebt eher einen Durchbruch zu den untersten Schichten des Menschen an, um von dort Informationen von universaler Bedeutung hervorzubringen. Darum hat es den Anschein, als wäre diese Generation uiwerankert, denn die menschlichen Situationen, die sie beschreibt, sind überall auffindbar, und die psychischen Zustände, die sie analysiert, kann man auf jeden applizieren.

Doch es ist nur eine scheinbare Unverbundenheit, obwohl man natürlich den Einfluß von Camus, Sartre, Robbe-Grillet usw. bemerken kann. Jeder Schriftsteller ist, ob er nun will oder nicht, in einem gewissen entscheidenden Sinn das Produkt seiner Umgebung, in der er lebt; ob er will oder nicht, reagiert er auf reale Einflüsse aus seinem Umkreis. Und so sind auch in der konstruiertesten slowakischen Prosa einheimische Realien und Erfahrungen bemerkbar. Einheimisch ist die Ablehnung großer Worte, die Sehnsucht nach Intimität, die Enttäuschung über nicht realisierte Vorstellungen, über den Gegensatz Traum und Wirklichkeit, über die Unmöglichkeit, zurück zur Natur zu gelangen; der Haß auf die Verstellung und ethische Gleichgültigkeit. Auch wenn die junge Prosa nicht verbis expressis beteuern muß, daß sie sich mit Sachen befaßt, die hier und jetzt existieren, ist es doch allgemein bekannt, daß sie sozusagen als Mitgift das Nicht-trauen der Vergangenheit gegenüber mitbekam und daß sie also durch und durch der Gegenwart lebt.

Es ist eine andere Frage, oder eigentlich ein Problem, inwieweit sie fähig ist, von dieser Gegenwart zu zeugen, inwieweit sie nicht nur Literatur bleiben will. In der jungen slowakischen Prosa sind deutlicher als zum Beispiel in der jungen slowakischen Poesie zwei Seiten dieses Problems zu erkennen; erfüllt die Poesie oft im wahrsten Sinne des Wortes das künstlerische Programm, das im vorhinein gegeben ist, und fabriziert sie kluge Präfabrikate, mit denen sie weit mehr die Lebensfähigkeit der Programme als die der individuellen dichterischen Tat beweisen will, hat die junge Prosa bis jetzt kein Gruppen- oder Generationsprogramm formuliert. Die Prosaiker haben in dieser Hinsicht kein Programmpräzedens, und dieser Vorteil löst ihnen in ästhetischer Hinsicht die Hände. Darum besinnen sie sich, meiner Meinung nach, eher auf die Individualität, sie befreien sich schneller von der .Literaturmache“, und ihre Aussagen über sich und die Wirklichkeit haben eine breitere Gültigkeit und größere Authentizität.

Ich glaube, daß die junge slowakische Prosa, die eigentlich erst startet, einen guten Gegensatz der gesellschaftlich engagierten Prosa gegenüber bildet, die mit anderen Methoden und künstlerische Mitteln arbeitet. Sie hat natürlich auch Mängel, wie jeder Anfang, ihr Vorteil jedoch besteht darin, daß sie die Welt enthüllter sieht und fähig der lyrischen Erregung über Einzelheiten und Kleinigkeiten ist, denen gegenüber unsere mechanisierte Zeit blind oder gefühllos ist.

Bei der Formulierung der jungen Poesie spielte die Rehabilitierung der künstlerischen Avantgarde, besonders des Surrealismus, ein« bedeutende Rolle. Es geht hier nicht um die Übernahme fertiger künstlerischer Ergebnisse und ihre Applikation auf die neuen Verhältnisse, sondern um eine neu erweckte Vorstellung über die Möglichkeiten des künstlerischen Wortes, die bereits erschöpft schienen. In dieser Hinsicht gleicht die junge Generation unserer Lyriker der der Prosaiker. Die gleiche Beunruhigung durch ihre Zeit, die gleiche Problematisierung aller Werte. Verlust der Illusionen, erschütterte Ideale, Absinken bis auf den Grund des Menschen. Keine Spur von Harmonie, von Selibstberuhigung, im Gegenteil, ein Gefühl der Destruktion und Unsicherheit. Eine Krise in den elementaren menschlichen Beziehungen, ein Ungenügen der Gefühlskommunikation.

Wie aus diesen beliebig herausgegriffenen Charakteristiken ersichtlich ist, deckt sich die Erfahrung der jungen slowakischen Poesie mit der Erfahrung der Weltpoesie. Das ist ganz natürlich. Die Erfahrung der Poesie angesichts einer möglichen Weltkatastrophe ist nicht durch regionale Grenzen beschränkt, und die Erlebnisse der Abwertung des Menschen bis auf ein Werkzeug oder ein Opfer der Machtkräfte sind desgleichen allgemein. Das alles transformiert sich mit mehr oder weniger Intensität auch in der slowakischen Poesie.

Die zeitgenössische slowakische Literatur hat ihre exportfähigen Repräsentanten, hinter denen nicht nur ein großes künstlerisches Werk, sondern auch ein großes Leben steht. Sie hat ausgeglichene Persönlichkeiten, die ihre Vision einer ruhigen Welt ausbauen; sie hat geteilte Persönlichkeiten, die zwischen Glaube und Skepsis schwanken; sie hat Analytiker, die möglicherweise nie zu einer Synthese gelangen werden, und sie hat Synthetiker, die sich mit keiner Analyse begnügen; sie hat Dichter, die beruhigen, und Dichter, die beunruhigen, und solche, die nicht befriedigen. Es gibt, mit einem Wort, eine ganze Plejade, deren Gesamtheit die Regenerationsbewegung auf dem Gebiet der Form und der Ideen darstellt.

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