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Sehr dunkler und sehr lichter Klang

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Die Insel bringt, als österreichische Erstaufführung „Die Mutter” (Wassa Shelesnowa) von Maxim GorITi j. Dieses 1910 verfaßte Stück (das nicht zu verwechseln ist mit Gorkijs bekanntem Roman „Die Mutter”) hat den Dichter innerlich nicht aus seinem Bannkreis entlassen. Noch 1935, ein Jahr vor seinem Tode, arbeitet er es zu einem neuen Stück „Wassa Borisowna” um. Gorki), der „Bittere”, lebt, zehrt von den Bitternissen seiner Jugend: wie ein schwerer Alp liegt das „alte Rußland” auf seiner Seele: es ist nicht mehr das „heilige Rußland” der Pilger und Starzen, der Mutter Gottes von Kasan und der lichtesten Träume Dostojewskis, sondern ein dunkles, unruhiges Land im Vorfrühlingssturm, geplagt von den Schulden und Ängsten der Vergangenheit, überzuckt von den Blitzen der Zukunft. Die gescheiterte Revolution von 1905 eitert in vielen schlecht vernarbenden Wunden aus, die großen Stromkräfte des Landes — verquältes Bürgertum und dumpf leidendes Niedervolk •— können das Eis nicht brechen und ächzen in unruhigen Träumen. Dieses ganz und gar nicht romantische „Mütterchen” Rußland, welches eher einer leid- und fruchtschweren Erdmutter heidnischer Vorzeit gleicht, findet seine symbolhafte Verkörperung in Wassa Shelesnowa: Wassa träumt von ihrem blühenden Garten — vom Garten ihrer Familie, ihres Volkes, in dem sie, umringt von reifen Söhnen und Töchtern und strahlend jungen Enkelkindern, Gestirn unter Sternen, Wipfelkrone über Blütenwiesen, bergend, segnend wandeln und schweben wird. Traum geheimster Nächte: nur erraten von zwei Frauen, die ihres Stammes sind, von ihrer Tochter Anna und ihrer Schwiegertochter Ludmilla. Der Tag ihres Lebens, ihrer Familie, sieht aber anders aus: hier, in dem alten Kaufmannshaus, herrscht jene beklommene Atmosphäre, die an die Katorga- und Zuchthaus-, die Narren- und Krankenhausluft gemahnt, welche im Pandämonium Dostojewskis nahezu stille steht. Stickig dicht die Rauchschwaden, geballt aus der Verfilzung von Schuld, Sünde, Krankheit, Erblaster, Torheit und der verzweifelten Schläue finster brütender Hirne, welche nur zu genau wissen, daß ihre Fluchtversuche sie zu neuen Verbrechen, nicht aber zu einer Befreiung aus dem Kreis ihres Bösen führen werden. Ssemion, der älteste Sohn, ein dummdreister Einfaltspinsel, der von seiner Frau Natal ja, einer hintergründigen „Altgläubigen” unter der Maske stiller Ergebenheit und Verborgenheit gelenkt wird. Pawel, der jüngere Sohn, ein Krüppel, ein Gezeichneter — besessen von seinem Buckel, seinem Minderwertigkeitserlebnis, seiner Schuld. Gerade ihm wurde Ludmilla zur Frau gegeben: ein vollreifes Weibsbild, welches jedoch an einer Jugendsünde seelisch versiecht und völlig unterzugehen droht; sie fällt dem Onkel Prochor zum Opfer, einem haltlosen Phantasten, dir nahe daran ist, die gesamte Familie in den Abgrund zu reißen. Um das klinische Bild dieser in voller Zersetzung und Auflösung befindlichen Großfamilie voll auszuzeichnen, ist da noch Anna, die einzige leibliche Tochter Wassas.

Diese tüchtige Offiziersdame hat es in ihrem Leben zu allerhand Erfolgen gebracht und stellt sich gerade zur rechten Zeit, als der Vater stirbt, daheim ein — um ihren Anteil am Erbe, an der Beute, einzuheimsen.

Das Publikum und der Leser fragen mit Recht: -was ist der Sinn dieses Familienstücks, welches eine Familie behandelt, deren intimste Bindungen zerbrochen, die selbst nicht mehr als solche angesprochen werden will — dieses Schauspieles, welches sich selbst nur als eine Folge von Szenen bezeichnet — von sehr pointillistisch gearbeiteten Blick- und Schnittpunkten unsäglich bitterer, oft nahezu unerträglicher Spannungen und Konflikte?

Der Sinn wird sofort ersichtlich, wenn wir dieses Werk mit dem letzten großen Insel-Stück, mit Hauptmanns „Vor Sonnenuntergang”, vergleichen. Bei Hauptmann: die Großaufnahme einer deutschen großbürgerlichen Familie, derselben erste Vorkriegszeit. Das Geschehen: ein sehr linearer Zerfallsprozeß. Die nicht vorberechnete zweite Ehe des Stifters und Gründers von Familie, Fabrik und Vermögen stürzt bereits als Projekt die Söhne, Töchter und Schwiegerkinder zuerst in tödliche Verlegenheit, faltet sie dann ins Nichts, ins Leere, in die Eitelkeit, Albernheit, tödliche Bosheit ihrer kleinen Geister und Seelen hinein aus: ein Makartbukett, zerblät- tert in Papier, in einen Zivilprozeß, der dem alten Manne das Leben, seiner Familie die Ehre, den Daseinssinn kostet.

Wie anders Gorkij! Die Sünden der deutschen Familie sind Harmlosigkeiten gegenüber den Lastern und Verbrechen, welche Gorkijs Großaufnahme der russischen Familie grell aufblendend ins Rampenlicht der Wirklichkeit (was für einer Wirklichkeit!) stellt. Die deutschen Familienmitglieder sind Statisten ihrer schlecht verhohlenen Begierden, Popanze, die mit dem gefälschten Firmenschild ihrer Ansprüche ihr männliches Oberhaupt in den Tod jagen. Die russischen Familienmitglieder sind teils Narren, teils Verbrecher, verzweifelte Todsünder und zerbrechende Schwächlinge, und diese Tollen, Wilden, Maßlosen, Unsinnigen werden von einer Frau gemeistert, bezwungen. Mit eiserner Zuchtrute weist Wassa, die herrscherliche Frau, jedem das Seine, das heißt, das ihm nach ihrer Einsicht seiner Fähigkeiten und Unfähigkeiten Gebührende zu. Und, wenn Wassa, die Herrin, die Frau, die Mutter, zuletzt auch selbst dem Zusammenbruche nahe ist, so hat sie doch das Leben gemeistert, den Knäuel schlimmster Irrungen und Verwirrungen gelöst. Als unerbittliche Richterin scheidet sie die Kranken und allzu Schwachen, dazu die Intriganten, Lumpen und Narren aus ihrem Blute aus — sie wird sich ein neues Geschlecht erziehen —, aus dem Blute Annas und Ludmillas, jener beiden Frauen, welche bereits vieles und Schweres in ihrem Leben ertragen haben — und immer noch, immer wieder bereit sind, neue Frucht, neue Bürde zu tragen! Der Garten dieser Familie, dieses Volkes wird also doch blühen Nicht zu verschweigen die Härte, welche in diesem Stück des großen Russen steckt, nicht zu verschweigen aber auch die Kraft! Eine schwere harte Walnuß — die Realität dieses Lebens dieses russischen Volkes, wie es Gorkij persönlicHerlebt, in seinen Werken gestaltet, wie es dem russischen Volke selbst — und auch den anderen Völkern zu lösen aufgegeben ist.

Darstellerisch die beste Leistung, welche die Insel bisher gezeigt hat. Um Mirjam Horwitz-Ziegel, deren Auftreten in Wien zu den freudigsten Ereignissen unserer Theatergeschichte jüngster Zeit gerechnet werden muß, gruppiert sich das alte Ensemble dieser Bühne zu einer echten und selten gesehenen Gemeinschaftsleistung.

Die Josef stadt hat sich an ein Märchen gewagt (an Franz von Poccis „Kasperl Larifar i”, neu bearbeitet von Paul Kalbėk) — und ist gescheitert.

Das starke komödiantische Talent Leopold Rudolfs (als Kasperl) versuchte, mit dem ihm eigentümlichen konzisen Schwung, mit der Wärme seines Spiels, zu retten, was zu retten war… Die armen kleinen Kinder: was konnten ihnen die hölzernen, jenseits des Traumes, jenseits des Zaunes der Poesie „erwachsenen” Reimsänge geben? Die armen großen Kinder: ihre Augen durchforschen den Raum vor der Bühne, um bei den Kleinen das zu finden, was die Bühne selbst nicht gab: strahlende, beschwingte Seligkeit des Spiels der Phantasie, lichten Glanz der Tiefe — eben — das Märchen.

Ein echter Stoff der echten Romantik (die Mär vom Glück und Unsegen einer Zaubergeige) wurde hier in sehr einfarbige, mattrationale Bildchen zerlöst, in eine peinliche Eindeutigkeit, die nichts besagt, eben weil sie alles aus-sagen will. Während im echten Märchen, auch in der großen Märchendichtung, zärtliche und schreckende Bilder die Geheimnisse des inneren Lebens umschweigen, schlagen hier billige Worte das Geheimnis, das Märchen, sein Leben tot. Schade: die „Großen” und die „Kleinen” hatten sich sosehr gefreut: auf das Märchen.

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