6559975-1948_42_13.jpg
Digital In Arbeit

Sehr verschiedenes Theater

Werbung
Werbung
Werbung

Die Wiener Theatersaison läuft nun langsam an. Das Ereignis der Woche ist die Neuinszenierung von Schillers „Kabale und Liebe“ in der Insel. Eine Aufführung, die nicht nur von Schulkindern und den rührigen Anhängern des „Theaters der Jugend“ besucht werden sollte …

Die ungeschwächte Wirkkraft dieses „bürgerlichen Trauerspiels“ ruht darauf, daß es, merkwürdig facettiert, schillernd, der Schnittpunkt mehrerer Ebenen ist. Da ist einmal der Großraum des Historischen. Was in unzähligen papierenen Petitionen, in schwachen stammelnden Protesten, in nichtvollzogenen Revolutionen und Aufständen um Gehör rang, hier auf der Bühne erhält es Stimme, Gestalt, ergreifende Formung: das Leid eines von rund 350 kleinen Tyrannen gequälten, geschundenen Volkes. Des deutschen Volkes, dessen Geschichte, als Kette einmaliger großer, sinnerfüllter und bewußt gesetzter Tathandlungen, sich in kritischen Momenten so oft in ein bloßes Geschehen abzu- Wandeln droht. In das stumme Ertragen fremder Herrscherlichkeiten, so im ganzen Spätmittelalter, so in der frühen Neuzeit. Im 18. Jahrhundert kommt aber keine „Reformation“ mehr. Die Bauern können keinen Aufstand mehr wagen, die Rebellion des Bürgertums gegen „die alten Mächte“ beschränkt sich auf den Raum des Geistigen. Dies ist der historische Sinn der Bürgerkultur des deutschen Idealismus und Klassizismus. Das Evangelium, die Heilsbotschaft des neuen Standes lautet: sieh’ ab, sieh’ beiseite vom Treiben der „Großen Mächte" — bau dir dein Reich in deiner eigenen Brust — durch Bildung, durch Wissenschaft, durch die Pflege der schönen Künste. Diese neue Religion der „Bildung“ verlegt also den politischen Auftrag ins Innere des Menschen — hier ist d a s Reich zu bauen — und erweist sich damit als säkularisierende Erbin christlicher Potenzen. —. Nun zeigt aber Schiller, und das ist das wahrhaft Revolutionäre an seiner „Kabale und Liebe“, daß es unmöglich ist, das „innere Reich", das inwendige Leben aufzubauen, wenn es den „bösen Nachbarn“, den herrschenden Mächten der Adelsgesellschaft, nicht gefällt. Ferdinand 1 und Luise werden nie dieses Reich bauen können — sie werden einfach zerbrochen durch den Widerstand der bösen Großmacht, die aus der Allianz des tyrannischen Fürsten mit einem Klüngel von Helfershelfern besteht. — Lied der einsamen Seele, das Lied Luisens —- und Notruf des einsamen Mannes — Ferdinands, das ist also „Kabale und Liebe“. Sang aber mit einem großen Hintergrund, in einem großen Rahmen. Und. damit kommen wir zur dritten Sphäre dieses Stücks. Es ist der Barock Schillers. Schiller, geboren in jenen Jahren, in denen die letzten spätreifen Blüten des deutschen Barock im Süden Stein und Farbe werden, ist der letzte Nachfahre und Vollender der deutschen Barockdichtung, eines Gryphius zumal. Das heißt, auf unser Drama angewandt: seine Figuren agieren nicht nur als Maskenträger eigen-eigenster Süchte und Sehnsüchte, sondern sind immer noch Träger monumental-großer, allgemein-menschlicher Tendenzen und Leidenschaften; Masken das großen Spiels, des Welttheaters. Der Fürst (vertreten durch den „Präsidenten“), der Bösewicht (Wurm), d i e Märtyrerin (Luise), der reine Tor (Ferdinand). Schiller versteht es' nun wie kein zweiter, und dies macht ein gutteil des Geheimnisses seiner Wirkung aus, dieses barocke Element, das auf den hohen Ton der physisch-metaphysischen Komödie gestimmt ist, hineinzumischen in das neue Spiel des Innermenschlich-Individuellen, des Persönlichen, Intimen. — Diese Tatsache, die die innere Dynamik des Stücks ungemein verstärkt, bildet das Kreuz, den Kreuzweg der Schauspieler, zumal der modernen Schauspieler, die nur selten mehr befähigt sind,“ beide Potenzen in sich zu tragen — und sie auszutragen in reifem Spiel. Epp hat sich nun, den Forderungen seines kleinen, Theaters gehorchend, kurz entschlossen,, in seiner Neubildung, von „Kabale und Liebe“ auf das erstere, das Hochbarocke, Staatspolitisch- Historische, nahezu völlig zu verzichten und das. Werk ganz ins Innere, Personale zu verlegen. Ein Wagnis. Denn nun ruht das innerlich so weiträumige Werk ganz auf dem Vermögen der einzelnen Schauspieler. Sind sie Becher, groß und weit genug, den oft wildschäumenden Wein Schillers zu fassen und dann auch zu kredenzen? Die Aufführung zeigt, daß dies bei einzelnen „Tersonen“ durchaus, zutrifft. Ergreifend die Leidenschaft der Lady Milford Eva Zilchers, erfreulich der jungen-starke Elan Janatsch’ als Ferdinand. Da- es jedoch nicht gelang, alle Akteure des Dramas gleichermaßen von innen her zu beleben, mit der seelischen Fühlsamkeit, d i e nun allein eine das ganze Stück zusammenhaltende Atmosphäre erstellen muß, aufzuladen, zerbricht, zerfällt das Werk in einzelne hoch-, tiefund untertonige kleine Eigendramen. So ersteht im Zuschauer eine seltsame Stimmung. Er wird . durch die Perfektion, beziehungsweise das Versagen in den einzelnen Szenen, die nur Teildramen sind, jeweils innerlich aufgeladen mit Spannung und dann wieder entladen. — Trotz allem: hier ist echtes Theater zu sehen, eine Vorstellung, die gegenwärtig in Wien ihresgleichen vergeblich sucht.

In den Kammerspielen gelangt „Par force“, „eine seltsame Jagd in drei Akten“, von Alexander Lernet- H o 1 e n i a zur österreichischen Erstaufführung. Leider. Wir hätten auf dieses Wiedersehen mit dem Dichter, der von Vielen als eine der wenigen repräsentativen Erscheinungen am österreichischen Dichterhimmel angesehen wird, verzichtet. Dieses Stückchen ist billigste artistische Jonglierkunst mit Wortspielereien, Leider auch mit Werten, ja mit Höchstwerten. „Liebe, Ehe, Erotik" — hier werden sie zerredet und zertan — in den „Handlungen" einer infantil-arglistigen dekadenten Mannsnatur. Sie heißt Goertz, ist aus Neigung Herrenreiter und Besitzer zahlreicher Frauen. Am Ende des dritten Aktes gelingt es ihr, sich einen Großteil dieser Freundinnen vom Leib zu schaffen; mit Frau, Dienstmädchen (und Köchin) vorlieb nehmend, verläßt Goertz Bühne und Publikum. — Gespielt wird sehr gut.,.

'Interessant, sehenswert, und diskussionsreif die ’ zweite Premiere der Skala. „D e r B o c k e r e r“ von Peter Preses und Ulrich Becher nennt sich „eine tragische Posse“. Kann eine Posse tragisch sein? Mit der Beantwortung . dieser Frage steht und fällt die künstlerische Bedeutung dieses Stüdes. Nun, der Hintergrund ist tragisch genug: Wien 1938—1945. Die Herrschaft eines Regimes und seiner Schergen. Da, im Hintergrund, stehen die Tragödien: der Todesweg eines kleinen Eisenbahners nach Dadaau, Mißhandlung und Flucht eines fremdrassigen Rechtsanwalts, Gestapo, Hotel Metropole; dazu die innere Vereinsamung und äußere Abdrosselung des Menschen, der sich dem Zwinggebot des Regimes nicht unterwirft. Zahlreiche Ansätze, Expositionen von Tragödien. Diese lauern im Hintergrund, sie dürfen sich aber nicht in den Vordergrund wagen. Denn hier herrscht die Posse, cGe Lache, der G’spaß, das burleske Treiben um die vollsaftige kernige Natur Bockerers, des Fleischhauers aus der Paniglgasse. Dem Barock, dem österreichischen Barock gelang einst diese Zusammenspannung der Gegensätze — Himmel und Hölle, Hinter- und Vorderhaus, letzter transzendenter Ernst und vital-plumper Scherz —, im engen Raum der Bühne. Der Moderne gelingt sie nur mehr,-wie hier, durch die personale Leistung einzelner Schauspieler. Imhoff als Bockerer: eine sehenswerte Ehrenrettung des „kleinen Mannes“ der „Wiener-Stadt“, der zuerst hilflos wie ein Kind dem Toben der braunen Großmacht gegenübersteht, sich aber im Laufe der Ereignisse immer sieghafter durchsetzt — durch die Kraft seines seelisch kerngesunden Herzens und eines gesunden Sinnes für die ergreifend einfachen Realitäten des schlechthin Menschlichen. — Beklemmend Paryla in der Maske eines Narren, der Hitler zu sein wähnt. — Im ganzen: der erste Versuch, das grausame Zwielicht verhängnisschwerer Jahre von der Bühne her zu erhellen, von der Lebensbühne des Wiener. Alltags. — Zur künstlerischen Leistung fehlt, ein letzter Ernst, ein letztes Verantwortungsgefühl: darf man so gräßliche, so furchtbare Dinge so leicht „behandeln“? — In einigen Szenen jedoch verdichtet sich in sparsamsten Worten und Gebärden das Geschehen zur Größe des Dramas. Ergriffenes Schweigen dankt den Schauspielern und Dichtern. Schade, daß es im nächsten Moment bereits wieder durch breite Lachsalven verschüttet wird.

Das tapfere vielgelobte und wenig geförderte Studio der Hochschulen beginnt seine neue Saison mit Priestleys'Desert Highway (Straße in der Wüste). Ein tapferes, sauberes, starkes Stück. Sechs englische Soldaten haben sich' mit ihrem Panzer im letzten Krieg in der syrischen Wüste verfahren. Sechs Abbilder des modernen Menschen, der sich in scheinbar ausweglosen Sackgasseri verirrt hat. Nuri taumelt er von sinnlosen zu sinnwidrigen Aktionen, verspielt sich im Leerlauf eines äußerlichen Alltags, läuft von Krieg zu Krieg. Keine falsche Romantik des Krieges, des Lebens, des Gefühls, des Ideologischen. Hart und schwer ist das Leben. Viel Schuld, viel Narretei. Und doch gibt es einen echten, gültigen Ausweg aus dieser ver-i fahrenen Situation in der „Wüste“. Ihn findet allein der Mensch, der in großer enthaltsamer Nüchternheit auf die. Stimme Gottes hört. Priestley macht zum Träger dieser Stimme einen Juden, den gläubigen Juden. Nun dient er im englischen Heer und weist seinen Kameraden den rechten Weg, so wie er ihn vor zweieinhalbtausend Jahren den Karawanen der Heiden gewiesen hat (so im traumhaften Zwischenspiel des Stücks). Die Aufführung, mit sparsamsten Mitteln wirkungsvoll erstellt, ist aus einem Guß. Vielleicht finden sich doch einige Studenten und Interessierte, die sie sich ansehen weiden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung