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„Sein zum Tode“

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Es ist ein Rätsel, warum manche Bücher Bestseller werden. „Simp'e Geschichten", vereinfachte Beschreibungen unserer alltäglichen Begebenheiten, ohne Verstiegenheiten, ohne Irreales, meist ein wenig anrüchig — so lachen sie, mit besonderen Bauchbinden geschmückt, in den Auslagen der Buchhandlungen, werden gekauft, verliehen, verschenkt, besprochen. Weil sie mehr oder weniger unmoralisch sind (man nennt das „deutlich"!), werden sie gelesen und auch abgelehnt. Aber das Rätsel bleibt.

Man muß sich schon ein wenig Mühe geben, man muß einmal ein solches Buch studieren, unter- st frtn,3f!iįSmoV'chen;' dann spürt man, woran der Bürhbrfplg 5tW hl liegen- mag. “Alle ' diese Bücher haben eih Gemeinsames — mehr oder weniger klar es weht in ihnen ein trauriger Wind; sie sprechen versteckter oder offener vom „Sein zum Tode“. Was einmal Martin Heideggers philosophische Findung war, ist in die Literatur eingegangen, in die philosophische zuerst und dann in die belletristische.

Was ist dieses „Sein zum Tode“? Ganz roh aus- gtdfückt: Heidegger analysierte und die Schriftsteller beschreiben einen Zustand des heutigen Menschen. Unser Lebensgefühl gründet darin, daß wir den Todestrieb stärker als den zugehörigen Lebenstrieb spüren. Die viele, vielfache Welt; die analysierten Seelen und die zertrümmerten Atome; die Ausweglosigkeit, jemals diese unsere Welt übersehen und ordnen zu können, bringen Angst und Sorge mit sich. Nehmen diese überhand, so wehren wir uns mit der Langeweile — dieser modernen passiven Resistenz aus Ratlosigkeit und Ermüdung. „Wer spricht von Siegen? Ueberstehen ist alles“ — schrieb Rilke. Was überstehen? Welt. Leben. Uns selbst. Und dann? Wenn wir sieglos überstanden haben, ist das der Tod. Unser Sein geht auf den Tod zu: ist ein Todesweg; ist vom Tode her festgelegt: ist niit dem Tode von vornherein belastet. Diese Last ist in unserer Zeit vordergründiger erlebt als die Freude am Leben. Der Nihilismus der Werte ist dafür Zeuge. Vielleicht ist er aber auch schon die Wurzel. In der Psychologie wird dieser gefühlte Zustand so ausgedrückt: der Mensch gehe vom „Es" zum „Ich“ und zum „Ueber-Ich". Gleichviel wie die Psychologie diesen Weg im einzelnen darstellt und motiviert — wichtig ist dieses ständige Ueber-hinaus-Gehen. In solchen Uebersteigun- gen sucht sich der Mensch zu retten — vor dem Leben! — in etwas hinein, was nicht sein eigenes, bewußtes, verantwortungspflichtiges Leben ist. Es ist wie ein Drang aus dem Biologischen ins Metabiologische, aus der Physis in die Metaphysis hinaus- und hinüberzusteigen Weil das eine nicht gekonnt wird, sucht man das andere — Höhere oder Tiefere, den „Geist“ oder die „Mütter". Im einen hätte man Norm und Gesetz, Bewußtsein und Verantwortung zu leben, im anderen lebt man in bloßen „Haltungen". Die Haltung des Detachement, der Enthebung, der Uebersteigung, des unwichtignehmenden Hinausdrängens, wird von den meisten „instinktiv“ gewonnen: aus der Vorgefundenen Triebkraft, die den Todestrieb näher fühlt als den Lebenstrieb.

Psychisch gesehen gibt es drei Arten der Uebersteigung: Der Mensch kann bewußt oder aus Angst seinen Lebensauftrag, die Gesetztheit in sein Schicksal verdrängen, fr will nicht haben und nicht wahrhaben, was ist. Das Geschick ist unbequem, hart, für die Fähigkeiten vermeintlich zu schwer, zu unlebendig, unlebbar Dann wird aus einem solchen Leben eine Lüge Damit ist nicht nur die illu- sionierende „Lebenslüge" gemeint (wie etwa in der

„Wildente“) — davon ist wohl kaum ein Mensch gänzlich frei. Es ist in Richtung der psychopathischen Schizophrenie gelegen, was durch die Verdrängung geschieht.

Eine andere Möglichkeit des Uebersteigenwollens liegt darin, daß der Mensch sein bloßes Triebleben, die „Unmoral", lebt, und dabei weiß, daß er dies nicht tun dürfe. Aber mit einer gewissen Ehrlichkeit sagt er sich, daß er sein Leben nicht kann —, daß er es jetzt nicht kann—, daß er es jetzt noch nicht kann —, daß er es jetzt noch nicht ganz kann. Er sieht ein, daß er warten muß; daß er-jetzt noch „gnadlos“ ist. Er sieht, solchem Ausweg und Umweg ein und nimmt ihn als eine seinen gegenwärtigen Möglichkeiten entsprechenden vorläufigen Weg. — Diese beiden Uebersteigungen — der in die Verdrängung und der in die Vorläufigkeit — entspringen dem erfühlten Todestrieb.

Die dritte Art der Uebersteigung entstammt dem Lebenswillen und gefühlten Lebenstrieb. Der heilige Jakobus nennt ihn in seinem Briefe „das vollkommene Gesetz der Freiheit“ (1, 25). Hier wird das Größere, das stete Andere und Durchdringende erstrebt — die Liebe: „Gott ist die Liebe." So allein ist der Ueberstieg in das Meta- gültig.

In allen diesen drei Möglichkeiten wird Frei heit gesucht: falsche, vorläufige und echte. Aber in diesem Freiheitswillen liegt immer, mindestens ein negativer, Beweis für das Transzendente, das „Göttliche": daß es auch im „Sein zum Tode“ so etwas überhaupt gibt, wohin man hinaus und hinüber kann.

Ein Musterbeispiel für die beiden Nenner „Bestseller" und „Sein zum Tode“ ist das neue Buch der Franęoise Sagan: „Un certain sourire“ („Ein gewisses Lächeln." Wien, Ullstein, 1956, Ueber- setzt von Helga Treichl). Sicher ist dies kein Buch, das man jungen Menschen in die Hand geben darf. Aber Erwachsene sollten dieses Buch einmal genauer durchgehen — vielleicht zur Orientierung über unsere Jugend; vielleicht auch ein wenig zur Selbsterkenntnis.

Bezeichnenderweise spielt zu Beginn und am Schlüsse dieser „simplen Geschichte“ die Musik eine Rolle — die unfaßlichste der menschlichen Künste, durch die wir Menschen uns selbst zu finden versuchen (im Gegensatz zum Theater, wo wir, zuschauend, uns selbst loswerden wollen!) Die Schallplatte auf dem Musikautomaten, erweckt in der Heldin Dominique „ein heftiges Gefühl von Glück... ein physisches, überwältigendes Bewußtsein, daß ich eines Tages sterben würde, daß meine Hand nicht mehr auf dieser Chromleiste und die Sonne nicht mehr in meinen Augen sein würde“. Am Ende ihrer Liebesgeschichte, als sie ein ab- und nichtssagendes Telephongespräch mit ihrem Geliebten führt, hört sie aus dem Radio über den Hof eine „Andante von Mozart, das wie immer das Morgengrauen heraufbeschwor, den Tod — ein gewisses Lächeln. Ich blieb eine Weile unbeweglich liegen und hörte zu Fast war ich glücklich." Diese Liebe war vorbei. „Ich hörte seine Stimme. Es war seine Stimme. Woher hatte ich diese Ruhe, diese Weichheit, als ob etwas Lebendiges, etwas Wesentliches aus mir verströme. . . Ich überraschte mich im Spiegel und sah, daß ich lächelte. Ich versuchte nicht, mein Lächeln zu unterdrücken, ich konnte es nicht. Ich wußte: ich war wieder allein. Ich hatte das Verlangen, mir dieses Wort vorzusagen. Allein. Allein. Und wenn schon! Ich war eine Frau, die einen Mann geliebt hatte. Eine simple Geschichte und kein Grund, sich aufzuspielen." Die Liebe war also auch nur ein Versuch gewesen und es zeigte sich, daß „es“ mit der Liebe nichts war. Und das Alleinsein? Auch darin geht das Leben nicht auf. Es geht bloß aus. Auf dem Tod zu. Ins Sterben. In diesen letzten Versuch, ins Größere, Transzendente zu gelangen. Inzwischen aber bleibt die Langeweile. Es ist bezeichnend, daß in diesem Buche am häufigsten das Wort „Langeweile“ und „langweilig“ vorkommt. Wer in der existentiellen Haltung lebt, daß , dqf Leben , ie,glos auf den Tod hinläuft spürt diese . Langeweile. Zugleich aber ist die Langeweile, dieses „Sein zum Tode“, davon sie erlebnismäßig, gefühlsmäßig Zeugnis gibt. Sie ist Zeichnung der Seele und zugleich Inhalt der Seele geworden.

Darum gibt es diese Bücher. Darum sind solche Bücher vielverkauft und preisgekrönt. Die schwere gnadlose Trauer, die jeder kennt, will jeder bestätigt haben, der sich selbst behaupten will ohne Religion und Konfession. Wer will da den ersten Stein werfen? Nicht mehr können? Noch nicht können? Gnadlos sein? Wer will das an einem konkreten Leben und von außen her beurteilen?

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