Seine Bestimmung: Bücher

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Urs Widmer über seinen Vater, den Übersetzer Walter Widmer.

Zwei Tage nach dem Tod des Vaters beobachtet der Sohn, wie seine Mutter das Arbeitszimmer ihres Mannes räumt. Unmengen von Papier, Medikamenten und altem Kram hat sie schon in einigen Säcken nach unten, an den Straßenrand, geschleppt, wo sie soeben vom Müllauto abgeholt wurden.

Wo denn nun das weiße Buch des Vaters sei, will der Sohn wissen, jenes Buch, in das der Vater, einem alten Familienbrauch zufolge, jahrelang seine persönlichen Aufzeichnungen notiert hatte? Das habe sie, sagt die Mutter erleichtert, Gott sei Dank gleich in den Müll geschmissen. Da beginnt der Sohn zu schreien: "Du hast das weiße Buch weggeworfen?" Er kann sich nur schwer beruhigen. Später hilft er der Mutter, die restlichen Säcke hinunterzutragen. Zwei Tage danach ist die Beerdigung, und der Sohn verspricht einer Freundin, das verlorengegangene Buch des Vaters selbst zu schreiben.

Verwandlung des Vaters

Der neue Band von Urs Widmer heißt demzufolge: "Das Buch das Vaters". Ob es sich dabei wirklich um einen Roman handelt, wie uns der Verlag wissen lässt, sei irgendwohin gestellt. Natürlich handelt es sich bei dem Buch nicht um eine Biografie des Lehrers und bekannten Übersetzers Walter Widmer (1903-1965) in dokumentarischem Sinne. Urs Widmer, der in diesem Text unverstellt als "der Sohn" auftritt, verwandelt seinen Vater nämlich in eine literarische Figur, gibt ihm den Namen Karl und zeichnet einzelne Szenen aus dessen Leben nach. Daher nehmen wir einen anderen Blick auf seine Geschicke, als wenn wir jenes weiße Buch mit dem schwarzen Einband lesen würden, das der Vater Seite um Seite mit winzigen Zeilen gefüllt hat. Und aus dem uns der Sohn mehrere Passagen dennoch zur Kenntnis bringt. Wurde das Buch also wieder gefunden? Oder handelt es sich bei den kursiven Texten um eine Erfindung des Autors?

Achtunddreißig Jahre nach dessen Tod vergewissert sich der Sohn noch einmal der Lebensumstände seines Vaters. Seine Bestimmung waren die Bücher, sein Schicksal die Literatur, seine Liebe galt der Welt der Künstler. So sehen wir diesen Karl: ein kleiner Mann, der sich in seinem Arbeitszimmer verschanzt, vier Päckchen filterlose Gauloises am Tag raucht, Rechnungen ungeöffnet in einer verschlossenen Schublade verschwinden lässt, der bei der Arbeit klassische Musik hört und bis zur totalen Erschöpfung französische Schwänke der Renaissance, dann Stendhal, Flaubert, Balzac und sehr viele andere Werke französischer Schriftsteller ins Deutsche übersetzt. Ein Mann, der seine Ehefrau Clara und sein Kind nur wenig zur Kenntnis nimmt. Von Beruf ist dieser Karl Gymnasiallehrer für Deutsch und Französisch. Auch ihm wird eine Universitätskarriere vermasselt, denn ein "knochentrockener Privatdozent aus Tübingen" erhält die angestrebte Stelle. Das lässt Karl nicht auf sich sitzen, da rechnet er schon mit dem alten Emeritus, der diese lächerliche Berufung zu verantworten hat, ab. Er gibt ihm zu verstehen, dass das von ihm einst veröffentlichte Tristan-Buch rein gar nichts wert sei.

Widmers Mission macht dieses Buch sympathisch: Es zeigt uns einen aus der Öffentlichkeit zurückgezogenen, im Grunde scheuen Menschen, der im Kreis seiner Freunde aber aufblüht, der genial veranlagt ist, aber mit Geld nicht umgehen kann, also Schulden macht und zudem Steuer hinterzieht, der hin und wieder trotzdem den Luxus braucht, den er sich aber eigentlich nicht leisten kann. Und der darauf angewiesen ist, dass seine Frau die Sachen wieder in Ordnung bringt und daher vielen als lebensuntüchtig erscheint.

Karl ist im Grunde ein unpolitischer Einzelgänger, der sich aber einige Jahre links engagiert, weil er von der antifaschistischen Begeisterung seiner Künstlerrunde, in der sich auch verrückte Polit-Fundamentalisten und stalintreue Wirrköpfe versammeln, mitgerissen wird.

Unbändige Lebenslust

Der Sohn erzählt uns, was für eine ungebändigte Lebenslust in diesem Manne steckte, er berichtet von den Kühnheiten des Vaters, von seinen Glücksfällen und halsbrecherischen Taten, vom Glück erster Liebschaften, von dem Basler Künstlermilieu der vierziger, fünfziger Jahre, von den damit verbundenen Männerfreundschaften, den grandiosen Festen, den Besäufnissen und Entzweiungen, und er erzählt uns fröhlich von einer späten, sehr kurzen Affäre des Vaters mit der Industriellengattin und Literaturfreundin namens Myrta.

Erstaunlich dabei, dass wir über die Beziehung zwischen Vater und Sohn so wenig erfahren: "Dann kam das Kind zur Welt, ich, und der Vater freute sich." Nüchtern ist der Ton, nüchtern das Verhältnis: "Er küsste mich, mit der Zigarette im Mund." Der Vater kann mit dem Buben, später mit dem jungen Mann, der noch als 28jähriger, beim Tod des Vaters, zuhause wohnt, wenig anfangen. Das verhält sich glücklicherweise beim Sohn anders, denn Urs Widmer kann sehr viel anfangen mit den Geschicken seines Vaters. Dass er jetzt, nach so langer Zeit, sein Versprechen eingelöst und uns dieses Lesevergnügen beschert hat, dafür kann man ihm wirklich dankbar sein.

Das Buch des Vaters

Roman von Urs Widmer

Diogenes-Verlag, Zürich 2004

209 Seiten, geb., e 20,50

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