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Seine Majestät, der Nichtleser

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Kirche und Episkopat laden die katholische Oeffentlichkeit Oesterreichs am kommenden Sonntag ein, sich auf ilre Presse zu besinnen.

Die Presse selbst ladet, in jedem Herbst durch breitere Aktionen, die Oeffentlichkeit ein, sich ihrer mehr als zuvor zu bedienen.

Es wäre an sich nicht uninteressant, als Spiegel unseres Kulturstaates und unserer Gesellschaft, zu untersuchen, was da alles an Waren aufgeboten wird, um für ein Blatt Papier zu werben: vom Wohnhaus bis zur Waschmaschine, vom Flug nach Amerika bis zum Großwagen und Kleinauto.

Alles das, um für ein Blatt Papier zu werben? Um einen gefährlichen Konkurrenten auszustechen, der vielleicht mit der Sensationsmache und dem Motto: „Schreib blutiger. Kollege", zeitweilig die Auflage seines Boulevardblattes in die Höhe schnellen läßt? Geht es der Presse wirklich nur um dieses „billige", so teure Geschäft?

Die verständlichen Propaganda-Aktionen der Welt-Presse und der Ruf der Kirche weisen auf einen gemeinsamen Hintergrund hin, der alle angeht, Weltkinder und Gläubige, politisch mehr oder weniger Interessierte, sehr gebildete und weniger kulturbeflissene Zeitgenossen: während über uns allen der rote Mond kreist, die Völker in Kriegsangst und Kopjunkturkonsum schwitzen, während der Tod Tag für Tag und besonders Sonntag für Sonntag seine reiche Ernte auf allen Straßen einbringt; während die Jugend lernt, arbeitet und herumlungert, wie ihre Gegner meinen, steht hinter all dem ein riesiges graues Heer: Seine Majestät, der Nichtleser.

Es ist diese Macht der Ohnmächtigen, die vielleicht die Ursache einer manchmal fast schauerlich anmutenden Impotenz der freien Welt, und gerade auch in Europa, ist: der permanenten Krise der europäischen Zusammenarbeit und aller Unternehmungen, die weiter, kühner, umfassender zielen: in Kirche, Welt, Politik der Freiheit. Und denen allen etwas „Lächerliches“, „Illusionistisches“ anhaftet, zu Unrecht, da unsere Völker, unsere „Bevölkerung“ uninformiert, .uninteressiert den wirklich wichtigen Aufgaben gegenüberstehen.

Vor wenigen Tagen brachen die Parlamentarier in Straßburg in einen Notschrei des Zorns und der Empörung aus: kein Minister der vielen im Europarat vertretenen Regierungen hatte es für notwendig gefunden, an dieser Session des Europarates teilzunehmen.

Das Mißverhältnis zwischen der Bedeutung einer Sache und der Anteilnahme der Betroffenen läßt sich in allen Sektoren des Lebens beobachten. Bei recht sekundären Veranstaltungen dieses und jenes Interessenverbandes finden sich in Scharen „Prominente“ aller Sparten ein. Hochwichtige sachbezogene Tagungen und Aussprachen, in denen nüchtern und ruhig ernste Dinge abzusprechen wären, scheitern, weil die zur Mitsprache und Lösung Berufenen nicht erscheinen oder nur nichtverantwortliche „Vertreter" entsenden.

Eine fehlgeleitete, fehlgelenkte Publicity läßt die diversen Publika der Wochenschauen, Illustrierten. Bildrevuen, tagtäglich durch eine Fülle „interessanter“ Stories aus dem Leben achtzehnjähriger Filmgrößen, abgedankter Fußballkönige, geflohener Feldmarschälle, erfolgreicher Gangster gefangennehmen. So gefangen, daß für „anderes“ keine Kraft, keine Aufnahmsfähigkeit mehr übrig bleibt.

Seine Majestät, der Nichtleser: er ist, ohne es zu wissen und zu wollen, oft der Herr der Geschicke gerade in der freien Welt: da er sich der Mitverantwortung und Mitgestaltung, der Mitsprache entschlägt, da er die wichtigsten Sachen einer Handvoll berufener und unberufener Politiker und „Spezialisten“ übergibt, trägt er wesentlich dazu bei, daß wir immer wieder in Engpässe und Katastrophen hineinschlittern. Vielleicht wird eine Krise der Konjunktur ein zeitweiliges Erwachen bringen. Sicher ist das nicht: denn, wie die Katastrophen der nahen Vergangenheit zeigen, strebt seine Majestät, der Nichtleser, an „einfache" Lösungen gewohnt, sofort nach dem Scheitern einer Versicherung eine neue, womöglich noch einfachere „Lösung" an. Wer nämlich jeder schweren Kost entwöhnt ist, jeder persönlichen und ständigen Auseinandersetzung mit den komplexen Fragen und Aufgaben des heutigen Lebens, wird auch durch Blitze, Gewitter und Unwetter nicht erweckt. Stürzt ein Dach ein, sucht er ein anderes, aus Beton und Stahl, zumindest aus massiven Schlagworten und Versprechungen.

Nun ist — ein öffentliches Geheimnis — die freie Presse, die auf freie Meinungsbildung und kritische Selbstfindung angelegte Publizistik im christlichen und weltlichen Raum eine „schwere Kost“, die so viele Menschen nicht vertragen: Menschen, die große Verantwortung tragen, in Staat und Gesellschaft. Seine Majestät, der Nichtleser: seine Reiche, in denen er als Potentat herrscht, sind ja nicht die Stuben der „kleinen Leute", der überarbeiteten Lehrer und mancher Angestellten, die für ihre Familie eben dazu verdienen müssen; seine Reiche, die sehr von dieser Welt sind, sind anderswo, höher zu suchen. Offen heraus, mit breitem, nicht schüchternem Lächeln, erklärt es etwa ein prominenter Politiker, oder auch ein hoher Staatsbeamter: Wissen Sie, ich lese das alles nicht. Auf eine freundliche Frage hin gesteht er gern, daß er dieses und jenes publizistische Organ im deutschen Sprachraum, das sich ständig mit Fragen seines Arbeitsbereichs auseinandersetzt, nie zur Hand genommen hat. Das ist uninteressant; wichtig ist nur, so erklärt der hochgestellte Mann, daß man die Handvoll Leute kennt, mit denen man hüben und drüben im Geschäftsverkehr steht.

Kleine Anfrage an das Hohe Haus, das Parlament und seine Abgeordneten: sollte vielleicht ein Zusammenhang bestehen zwischen der schleppenden Behandlung wichtigster, das ganze Volk angehenden Fragen, zwischen der Phantasielosigkeit, neue Wege zu suchen, zu sehen und zu gehen, und dem offenen Nichtinteresse, das nicht wenige der ernsteren Publizistik und Presse entgegenbringen?

Kleine Anfrage an einige Aemter: sollte da vielleicht ein Zusammenhang bestehen zwischen der ungeschickten Verwendung von Steuergeldern in öffentlichen Aufträgen, der Entsendung unnötiger Delegationen zu auswärtigen Kongressen, zwischen allerlei beschämenden und lächerlichen Vorgängen, etwa der Entfernung „unpassender Gemälde“ und Plastiken an öffentlichen Gebäuden, der Errichtung neuer, unter Ausschluß der Oeffentlichkeit verplanter Bauten, zwischen der offensichtlichen Taktlosigkeit und Kontaktlosigkeit, mit der Wünsche der Staatsbürger und wirkliche Bedürfnisse der Zeit annulliert werden — und der Nichtlesebereitschaft in diesen Aemtern?

Eine freie Presse, eine christliche Presse zumal, ist unbequem. Sie muß, das ist ihr Auftrag, mahnen, bitten, auf wunde Punkte hinweisen und heiße Eisen anpacken.

Seine Majestät, der Nichtleser, hat ein einfaches Rezept, ihr zu „begegnen": da er nicht wirklich im Bilde ist, also die konkrete dauernde Mitarbeit dieser Presse gar nicht würdigen kann — sie auch nicht zu schätzen vermag —, greift er nur, von Fall zu Fall, wenn er durch Untergebene und Gegner darauf aufmerksam gemacht wird, zum Apparat zur Feder eines Bediensteten ode- zum Telephon, um sich, kurz und im Befehlston. gegen den „Angriff“ zu wehren.

Ein auf seine Weise kluger und umsichtiger Mann, mit einem Instinkt für Macht und Machtbehauptung, Generalissimus Franco, hat soeben in einer Rede eine Prophezeiung ausgesprochen, die alle Freunde der Freiheit und Demokratie aufhorchen lassen müßte, und die bei uns kaum debattiert wurde: Franco gab da seiner festen Zuversicht Ausdruck, daß die Zeit für ihn, für autoritäre Regime arbeite, und daß gerade die Regierungen in der westlichen Welt sich in Bälde seinen Auffassungen von der Führung der Völker nähern würden …

Unabhängig von Franco und unabhängig von dem Anziehen und Anspannen der Lenkung in den östlichen Staaten haben es in ganz Europa und darüber hinaus gute Kenner der politischen Verhältnisse oft in dieser letzten Krisenzeit angesagt: überall, fast überall beginnt sich die Verwaltung und Schaltung, von oben herab, an die Stelle freier Mitarbeit und Mitgestaltung zu setzen. Regierung und Beamte, Funktionäre der großen Interessenverbände übernehmen ganz im stillen und wie selbstverständlich die Macht in ihren Reichen und kämpfen nur noch um die gegenseitige Abgrenzung dieser Reiche. Diese Kompetenzkämpfe sind dann die einzig echten politischen „Auseinandersetzungen“. Damit aber gibt es keine Räume mehr, in denen Freiheit und schöpferische Politik möglich sind.

Diese fortschreitende Machtübernahme wird gefördert und garantiert durch Seine Majestät, den Nichtleser. Vox populi, vox dei; die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes — dieses alte Wort müßte man heute oft so übersetzen: das Schweigen des Volkes gibt „seinen“ Vertretern das Recht, alles zu tun, was sie durchsetzen können und wo ihnen nicht ein Mächtigerer in die Quere kommt.

Dieses Schweigen des Volkes breitet sich in unseren Landen immer mehr aus. Der Rumor, das Geschrei des Tages, die Sensationsmache des „Interessanten“ fundiert dieses Schweigen.

Seine Majestät, der Nichtleser, feiert heute, in der Zeit der Konjunktur, große, gefährliche Triumphe. Er drängt die freie Presse, die christliche Presse, die kritische,, verantwortungsbewußte Presse in eine Zone ab, in der sie „ungefährlich“ erscheint. Nicht beachtenswert für Seine Majestät, den Nichtleser, oben, da nicht beachtet von Seiner Majestät, dem Nichtleser, unten.

Wer den Ernst der Situation noch nicht einsieht, diese Selbstentmannung der Demokratie durch den Selbstverzicht des Staatsbürgers und Zeitgenossen auf die Beeinflussung der Führung, möge einmal kurz die Bedeutung und das Gewicht der Presse in der alten Monarchie und im heutigen Oesterreich vergleichen. Der kleinste Hinweis auf eine Korruption, auf ein Verschulden eines Beamten oder Beauftragten in der Presse genügte damals, um sofortiges Einschreiten und Abhilfe zur Folge zu haben. Damals war Seine Majestät, der Kaiser, der sorgfältigste Leser der ernstzunehmenden Presse; in seiner Schule erzogen, waren es alle höheren Beamten; und mit ihnen breiteste Kreise der Oeffentlichkeit. Der heute fast legendär anmutende Rechtsstand, die Rechtlichkeit der altösterreichischen Verhältnisse, hingen eng mit diesem lebendigen Funktionieren der Presse als Beauftragter der sehr interessierten Leser im Großkörper des Zwölfvölkerstaates zusammen.

Heute reichen schwerste Verfehlungen, Fehlleitungen und Fehlleistungen, von der Presse angezeigt, selten hin, um auch nur eine Untersuchung einzuleiten, wenn es der starke Arm eines Machtherrn nicht will.

Die Entmachtung der Presse ist aber nichts anderes als die Folge der Selbstaufgabe, der freiwilligen tagtäglichen Abdankung Seiner Majestät, des Lesers, der sich seiner Pflicht, mitzureden, und das heißt zunächst, mitzulesen, mitzudenken, entzieht, da es zu „zeitraubend“, zu anstrengend, zu beschwerlich' ist, so „schwere“ und schwielige Probleme zu wälzen . ..

Pressesonntag in Oesterreich 1957: Wissen wir wirklich noch nicht, während jeder vom Kahlenberg oder Burgenland aus hinüberschauen kann in ein Land, in dem die Lichter ausgelöscht wurden, was für ein kostbares Geschenk die Freiheit ist? Die Freiheit, die untergeht, wenn der Wirkraum, die Geltung der freien, der christlichen Presse immer mehr eingeengt, wird durch das dröhnende Schweigen Seiner Majestät, des Nichtlesers, oben, in der Mitte und unten?

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