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Selbstmordversuch aus Todesangst

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Die Parole hieß zunächst „Anschluß“. Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Die Bekenntnisse führender Männer des jungen Gemeinwesens, das als Republik Deutsch- Österreich in Paragraph 1 seine Gründung und in Paragraph 2 zunächst seine Auflösung beschloß, zum Anschluß und zur „Schicksalsgemeinschaft“ sind Legion. Nikolaus Preradovic hat sie in seiner Broschüre „Der nationale Gedanke in Österreich 1866 bis 1938“ mit sichtlichem Engagement zusammengetragen. Dr. Karl Renners Erklärung zum 12. November ist hier zu lesen; Otto Bauer wird auch ausgiebig zitiert. Hingegen aber vermissen wir, wie auch in anderen Publikationen, daß selbst in den Jahren 1918 19, in einer Zeit größter geistiger Orientierungslosigkeit, der Ruf nach dem Anschluß nicht so allgemein war, wie es später mitunter dargestellt wurde. Niemand anderer als Otto Bauer ist hier ein unverdächtiger Kronzeuge. In seinem Buch „Die österreichische Revolution“ führt er bittere Klage über die mangelnde Unterstützung, ja Sabotage seiner Anschlußpolitik und das Aufkommen einer neuen Österreichideologie;

„Das Alt-Wiener Patriziat und das Wiener Kleinbürgertum wollten es nicht glauben, daß das alte, große Österreich für immer dahin sei. Sie hofften, es werde doch noch, sei es auch in veränderter Gestalt, Wiedererstehen. Ihre alte Abneigung gegen preußisches, norddeutsches Wesen erstarkte wieder. Sie begannen, gegen unsere Anschlußpolitik zu fron- dieren Wir suchten die Staatsmänner der Entente zu überzeugen,

daß das ganze deutsch-österreichische Volk den Anschluß wolle. Die französischen Diplomaten konnten uns leicht widerlegen, indem sie beinahe die ganze bürgerliche Presse Wiens und die Stimmungen in einem großen Teil der Alpenländer gegen uns als Zeugen führten. Frankreich konnte in den Pariser Verhandlungen nunmehr darauf verweisen, daß den Anschluß in Deutsch-Österreich doch nur die Sozialisten und die Alldeutschen wünschten; Bürgertum und Bauernschaft wünschten ein selbständiges Österreich und hielten ein selbständiges Österreich für durchaus lebensfähig."

Und aus seiner Studierstube schreibt Hugo von Hofmannsthal an Rudolf Borchardt: „Wenn der Anschluß kommt, werde ich Schweizer."

Das mag genügen, um das Bild, das so gern, mitunter auch heute noch, von dem angeblich allgemeinen Anschlußwillen in der Geburtsstunde der jungen Republik gezeichnet wird, gerade zu hängen. Ja, mit dem historischen Abstand, den wir genießen, darf ruhig die Behauptung gewagt werden, daß der Franzose Clemenceau, auf den das Wort „Der Rest heißt Österreich“ oft zurückgeführt wird, mit dem Geist der Geschichte in einer besseren Konkordanz stand als so mancher anschlußfreudige Politiker Deutsch- Österreichs, für den Österreich allein zunächst nur ein „verhaßter Name“ (Otto Bauer) und nichts mehr war.

Schritte im Nebel

Die Republik Österreich setzt tastend und zögernd ihre ersten Schritte. Der Anschluß wurde zwar allmählich in allen politischen Lagern, mit Ausnahme der nationalliberalen, das sich auch alsbald als „großdeutsch“ verstellte, eine .Sache, „ von der man in Abwandlung des berühmten Gambetta-Wortes oft sprach, aber immer weniger ernstlich daran dachte. Die Eigenstaatlichkeit und Eigenständigkeit begründete man zunächst jedoch retrospektiv und nicht aus klarer und froher Zukunftsschau. Vor allem aber übernahm die im Sprachenstreit herangewachsene erste Generation der jungen Republik den sprachlich-ethnisch-biologisch determinierten Nationsbegriff der letzten Jahrzehnte der Monarchie zunächst bedenkenlos und gab ihn von den Kathedern an nachrückende Generationen weiter.

„Deutsche Arbeit, ernst und ehrlich, deutsche Liebe, zart und weich, Vaterland, wie bist du herrlich,

Gott mit dir, mein Österreich.“

So dichtete Ottokar Kernstock, und wir, die wir in den dreißiger Jahren die Schulbänke drückten, haben diese Verse nicht ohne Rührung, aber ohne viel darüber nachzudenken, gesungen. „Nation“ und „Staat“: Der alte Zwiespalt, der die Herzen der Väter und Großväter oft zerrissen hatte, wurde dem neuen Gemeinwesen in die Wiege gelegt. An ihm ist letzten Endes die Erste Republik gescheitert.

Erste Selbstbesinnung

Und dennoch Selbst in jenen Jahren der gespaltenen Loyalität, in denen mitunter sogar auch von offizieller Seite die Belange der deutschen Nation und ihrer Interessen höher bewertet wurden als die des österreichischen Vaterlandes, beginnen aufgeweckte Geister, sich Gedanken über das Unbefriedigende, ja Gefährliche eines solchen Zwie- denkens zu machen.

1929 tritt Anton Wildgans vor. In seiner berühmt gewordenen Rede über Österreich wird das erstemal ein neuer Ton angeschlagen, wird der Ruf zur Selbstbesinnung der Österreicher auf Österreich und auf die Lehren der Geschichte erhoben. Es ist charakteristisch, daß der Blick vornehmlich zurückgeht. Die Wunde von 1918 ist noch kaum zehn Jahre vernarbt. Aber in einer Analyse der Katastrophe hat der Dichter, der im übrigen noch durchaus dem Deutschtumsbegriff der Ersten Republik verhaftet ist, unter anderem den Mut, folgende Erkenntnis auszusprechen:

„Es erscheint als eine allzu leicht hingenommene Behauptung, daß der frühere Nationalitätenstaat in seinen Grundfesten morsch und als solcher unmöglich gewesen sei. Unmöglich war er bloß als ein Schwerthelfer des Germanentums, und als solchem wurde ihm auch ein Untergang von seltener Grausamkeit bereitet.“

Wenige Jahre vorher haben sich einige jüngere katholische Akademiker, als deren geistiges Haupt

Ernst Karl Winter angesehen werden kann, zur „Österreichischen Aktion“ zusammengefunden. Winter und sein Freundeskreis kommen aus der großösterreichischen Jugendbewegung Anton Orels, wo die reine Lehrg, des katholischen Sozialreformers Vogelsang mit Plänen zum Umbau der Doppelmonarchie zu einem mitteleuropäischen Commonwealth of nations verbunden wurde. In einem 1925 erschienenen geistesgeschichtlich hochinteressanten Manifest wird das erstemal, noch sehr romantisch verbrämt und legi- timistisch akzentuiert, der Ruf nach der Identifizierung des Österreichers mit seinem Staat, die Forderung des Bekenntnisses zur österreichischen Nation erhoben. Kritiker, mögen sie auch Hochschulprofessoren sein, gehen somit irre, wenn sie diesen Begriff dem Jahre 1945 zuordnen wollen oder, wie es auch geschieht, als eine „kommunistische Erfindung“ zu disqualifizieren versuchen.

Eines stimmt: Das offizielle Österreich blieb damals zunächst noch zurückhaltend.

Es sollten jedoch nur wenige Jahre vergehen und niemand anderer als eben der Vorkämpfer für eine europäische Einigung, Couden- hove-Kalergi, nimmt den Ruf zur Identifizierung der Österreicher mit ihrem Staat auf und gibt ihm internationale Resonanz. Coudenhove- Kalergi weiß nur zu gut, daß gerade die Nationswerdung Österreichs ein wichtiger Beitrag, ja eine Voraussetzung für eine künftige europäische Staatengemeinschaft ist.

„Die Geburt der österreichischen Nation bildet keinen Sonderfall; auch in anderen Teilen der Welt gibt es Sprachgemeinschaften, die sich in zwei oder mehrere Nationen gliedern, sonst gäbe es keine amerikanische, keine mexikanische, keine ägyptische Nation Entscheidend für die Geburt und das Leben einer Nation sind der nationale Wille zur Selbständigkeit und das Bewußtsein unlöslicher Verbundenheit des nationalen Schicksals und der nationalen Kultur. Wo dieses nationale Selbstbewußtsein vorhanden ist und dieser nationale Wille, da gibt es eine Nation jenseits aller Namen und theoretischer Einwände. Dieses Nationalbewußtsein in Österreich ist erwacht und bestimmt dessen Innen- und Außenpolitik. Die Nationalisierung Österreichs ist eines der bedeutsamsten Ereignisse der europäischen Zeitgeschichte. Denn sie bringt eine überraschende Lösung der österreichischen Frage. Sobald Österreich sich als eigene Nation fühlt, hört es auf, ein europäisches Problem zu sein. Dann gibt es ebensowenig eine österreichische Frage, wie es eine schweizerische gibt. Aus einer Frage wandelt sich Österreich in eine Tatsache."

Coudenhove eilte, wie in so vielem, auch mit dieser Forderung seiner Zeit voraus.

Der „zweite deutsche Staat“

Das offizielle Österreich hielt, nachdem inzwischen sowohl die Christlichsozialen als auch die Sozialdemokraten den Anschlußparagraphen in aller Form aus ihren Programmen eliminiert und Dollfuß das erstemal in der Republik die Fahne eines österreichischen Patriotismus entfaltet hatte, bei der Formel vom „zweiten deutschen Staat“. Immerhin kündigt sich eine Neuorientierung der Geister an. Nikolaus Preradovic hat recht, wenn er in der schon zitierten Broschüre schreibt:

„Seit dem Beginn ; der dreißiger Jahre begann sich ein gewisser Wandel in der Auffassung abzuzeichnen. Bisher war der Gedankef dem deutschen Völkstum anzugehören und damit letztlich die Idee des Zusammenschlusses in allen Parteien — zumindest offiziell — verankert gewesen. Es hatte auch bisher neben den Anhängern dieses Gedankens, die in der Öffentlichkeit mehr oder weniger das Feld beherrschten, manche Gegner solcher Bestrebungen gegeben. Neu war jedoch, daß diese die Anschlußfreunde immer mehr als Staatsfeinde zu empfinden begannen."

Die Geschichte jener Jahre und ihr Ausgang ist bekannt. 1938 streicht der „zweite deutsche Staat“ seine Fahne. Österreich wird historische Unperson. Hunderttausende Österreicher müssen in einen Krieg ziehen, der nicht der ihres Vaterlandes ist, zehntausende kehren nicht mehr zurück. Der Mahner

Leopold Andrian von Werburg hatte rechtbehalten: „Die Feinde Österreichs wissen wohl“, so schrieb er 1936, „daß trotz aller Zweckmäßigkeitsgründe, die man für das Bestehen eines selbständigen österreichischen Staates anführen mag, dieser nicht Dauer haben wird, wenn ihm keine österreichische

Nation entspricht.“

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