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„Sensationen“ aus China

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Die Chinesen haben Ausländer noch nie sehr gern gehabt und ihnen noch nie gern Auskunft gegeben. So war es schon lange bevor die Kommunisten an die Macht kamen, aber in den letzten Jahren ist es ärger geworden, und zwar teilweise durch die verschlechterten Beziehungen zwischen China und anderen Ländern, vor allem aber deshalb, weil die chinesischen Behörden heute eine sehr viel wirksamere Kontrolle über Presse und Rundfunk ausüben und in der Lage sind, Geschehnisse beliebig vor der Außenwelt zu verheimlichen.

China, dieses riesige Land, in dem ein Viertel der gesamten Weltbevölkerung wohnt, ist immer noch das geheimnisvollste Land der Erde. Aber allen Kontrollen zum Trotz sickert doch mancher Tropfen Information durch und hilft, die offiziell herausgegebenen Bekanntmachungen kritischer zu bewerten, so daß sich der vor Chinas Toren in Hongkong sitzende Berichterstatter ein besseres Bild machen kann. Dabei hilft das Abhören der chinesischen Radiostationen und die Lektüre der Berichte der offiziellen chinesischen Nachrichtenagentur Hsin Hua („Neues China“). Einiges, obgleich nicht allzu Objektives, hört man von Flüchtlingen, manches auch von Hongkong-Chinesen, die noch Verbindung mit Verwandten und Bekannten auf dem

Festland haben. Und eine ganze Menge kann man erfahren, wenn man die Hongkong-Presse sorgfältig liest.

In dieser Britischen Kronkolonie mit ihren vier Millionen Chinesen und einem zwar kleinen, jedoch sehr kosmopolitischen Kontingent von Ausländern, erscheinen 243 Publikationen, davon 76 Tageszeitungen mit einer Gesamtauflage von eineinhalb Millionen. Nur vier dieser Tageszeitungen erscheinen in englischer Sprache („South China Morning Post“, „Hang Kong Standard“, „China Mail“ und „Star“). Ihre tägliche Auflage erreicht etwa 45.000. Es werden also pro Tag fast eineinhalb Millionen chinesischer Zeitungen verkauft, die meisten Exemplare werden von mehreren Personen gelesen. Die Hongkong-Chinesen sind demnach ein äußerst zeitungshungriges Volk.

Die Spannweite der chinesischen Zeitungen reicht vom kleinsten sogenannten „Moskito-Blatt“ (zwei bis vier Seiten mit Tips für Pferde- und Hunderennen und vielleicht noch ein paar persönlichen Verleumdungen) bis zur soliden, 12 bis 30 Seiten starken Zeitung, die Weltnachrichten bringt. Politisch ist das gesamte Spektrum vertreten, das Sprachrohr Pekings wie das vom Taipeh sind frei zu kaufen. Und die extrem rechtsgerichteten Zeitungen wie

„Hong Kong Times“ und „Gung Shang Bao“ („Industrie und Handel“) liegen ordentlich Seite an Seite neben ihren extrem linksgerichteten Rivalen in jedem Verkaufsstand.

Die kommunistischen Zeitungen, die „Da Gung Bao“ („Große Zeitung des Rechts“) und die „Wen Wei Bao“ (etwa: „Allgemeine Kulturzeitung“) bringen alle offiziellen Nachrichten aus China, dazu andere von Peking genehmigte Berichte über Industrie, Landwirtschaft, Medizin und andere Aspekte des kommunistischen Lebens in China. Sie berichten auch ausführlich über Ereignisse in Hongkong und bieten sich gern als Tribüne für lang ausgesponnene Diskussionen über irgendwelche Mißstände in der Kolonie an. Sie bringen aber auch Weltnachrichten, besonders, wenn diese den Westen in nicht zu gutem Licht erscheinen lassen. Ihre Börsentips sollen übrigens sehr geschätzt sein.

Während der Kulturrevolution bildeten nach Hongkong geschmuggelte Veröffentlichungen der Roten Garde eine wichtige Materialquelle für China-Beobachter.

Will man Nichtoffizielles aus China hören, etwa Gerüchte oder Erzählungen von Reisenden, muß man die nichtkommunistische Presse lesen, wie die „Ming Bao“ („Klare Nachrichten“), die „Hsing Dao“ („Insel-

Stern“) oder die „Wah Kiu Yat Bao“ („Tagesnachrichten für Ubersee-Chinesen“). Deren Material kommt allerdings meist aus der Hongkong nächstgelegenen Provinz Kwang Dung, aus der die Mehrzahl der Hongkong-Chinesen stammen, und wohin sie manchmal auf Besuch zurückgehen. Aber Kwang Dung ist eine recht individuell geleitete Provinz, und was sich dort abspielt, reflektiert längst nicht immer Entwicklungen in Peking. Aus allen genannten Nachrichtenquellen zusammen ergibt sich immerhin ein ungefähres Bild der Szene in China, aber damit ist der Korrespondent, der objektiv über dieses Land berichten möchte, noch nicht am Ende seiner Möglichkeiten und Schwierigkeiten. Propaganda, als Nachrichten verkleidet, Gerüchte, auch reine Erdichtungen werden in Hongkong von Angehörigen der interessierten Parteien sowie von Agenten dauernd in Umlauf gebracht. Taiwan füttert den Nachrichtenmarkt hier fortlaufend mit kleinen News über die Lage auf dem Festland, wie katastrophal dort alles geworden sei, wie die Führung sich gegenseitig in den Haaren liege, und daß überhaupt das ganze Regime am Rande des Zusammenbruchs stehe. Wann immer Mao sich einen Monat nicht auf der öffentlichen Plattform hat sehen lassen, setzen sie das Gerücht in Umlauf, daß er im Sterben liege oder bereits tot sei. Dann kommt die Reaktion der extremen Linken in Form von Photos oder Dokumentarfilmen, die Mao gesund, munter und noch sehr rüstig zeigen. Ach, sagt dann wiederum die Rechte, das ist doch gar nicht Mao, das ist ja sein Doppelgänger. Und so geht das Spiel weiter, ad inflnitum. Was die englischsprachige Presse

über China bringt, ist offizielles Nachrichtenmaterial vom Festland, gesiebt durch die westlichen Nachrichtenagenturen, sowie Auszüge aus der chinesischen Presse vom Vortag. Eine Ausnahme bildet die Abendzeitung „Star“, die im Laufe der Jahre für eine ganze Reihe von sensationellen Geschichten aus China verantwortlich war. Manche bezogen sich auf organisierte Kämpfe zwischen maoi-stischen und Anti-Mao-Gruppen, auf politische Schachzüge in Peking, oder auch auf Kriegsvorbereitungen an der russisch-chinesischen Grenze. Es war oft unmöglich, derartige Berichte aus irgendwelchen anderen Quellen bestätigt zu finden. Manche schienen zumindest plausibel. Aber fast alle werden von den internationalen Nachrichtenagenturen zitiert und erscheinen nicht selten in den führenden Zeitungen der Welt. Viele Hongkong-Beobachter nehmen sie nicht sehr ernst. So bleibt das Bild Chinas ziemlich obskur, da es so gut wie unmöglich ist, irgend etwas, was man erfährt, nachzuprüfen, dies allenfalls dann, wenn zum Beispiel eine Führungskrise in China auftaucht. Dann werden nämlich oft die Entwicklungen und Probleme der vorhergehenden Jahre erwähnt und als Vorwand benutzt, um die nunmehr unerwünschten Personen in dunkle Ungewißheit zu stoßen. So ergab sich erst kurz nach Beginn der Kulturrevolution ein umfassender Überblick über den Mißerfolg des „Großen Sprunges“ von 1958, sowie über die „drei schlechten Jahre“ (1959, 1960 und 1961). Ebenso ist es gut möglich, daß wir erst in einigen Jahren in der Hongkong-Presse lesen werden, was während der Kulturrevolution (1966 bis 1969) auf dem chinesischen Festland wirklich vor sich ging.

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