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„Serbische Terroristen knallen uns einfach wie Tiere ab”

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Die Tragödie in Sarajewo erträglich machen, will der kroatische Kulturverein Napredak. Er ist auf die Hilfe des Auslands, auf unsere also, angewiesen. Sie sollte nicht nachlassen!

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Die Tragödie in Sarajewo erträglich machen, will der kroatische Kulturverein Napredak. Er ist auf die Hilfe des Auslands, auf unsere also, angewiesen. Sie sollte nicht nachlassen!

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Sterben kann man auch zu Hause. Es ist die schlimmste Sache, zu Hause zu sitzen und auf die Granaten zu warten. Deswegen drängen die Leute aus Sarajewo in unsere Konzerte.” Franjo Topic, Präsident de' kroatischen Kulturvereins Napredak (Fortschritt), der vor eineinhalb Wochen in Wien seine 43. Filiale gründete, macht im Gespräch mit der FURCHE auf den ungeheuren Uberlebenswillen der Bevölkerung von Sarajewo aufmerksam, die nun schon das vierte Jahr im Würgegriff der serbischen Terroristen des Badovan Karadzic aushalten muß. Kultur und Kunstgenuß als Überlebensmittel.

„Alle unsere Aktionen sind dazu da, um die Terrorsituation ein bißchen zu mildern”, sagt Topic, der in Sarajewo an der katholisch-theologischen Fakultät lehrt. Der Kulturverein Napredak, der mittlerweile schon 15.000 Mitglieder zählt, ist „normal orientiert”, das heißt, er verleugnet nicht seine kroatisch-katholische Identität, hat aber auch Moslems und Serbisch-Orthodoxe in seinem Chor Trebevic (benannt nach einem Berg der Umgebung Sarajewos) und seiner Bund-funkanstalt, die ein zwölfstündiges Programm gestaltet, das man in einem Umkreis von etwa 80 Kilometern um Sarajewo empfangen kann.

„Die Leute in Sarajewo akzeptieren uns, wir sind sehr geschätzt, auch bei Politikern. Ich selbst kann problemlos jederzeit bei Staatspräsident Alija Izetbegovic oder Begierungschef Ha-ris Silajdzic eine Audienz erhalten.” Österreichs Botschafter Franz Bogen und der deutsche Botschafter Presin-ger sind überzeugte Unterstützer von Napredak. Als vor kurzem der amerikanische Botschafter Viktor Jakovic sich aus Sarajewo verabschiedete, verabsäumte er es nicht, auch Franjo Topic Lebewohl zu sagen.

Der Kulturverein Napredak unterhält auch Küchen in Senica und in Sarajewo, mehr als 150.000 Mittagessen konnten in der verhungernden Stadt schon verteilt werden. Unter welchen schrecklichen Bedingungen man arbeiten muß, zeigt das Schicksal des Chefredakteurs der von Napredak herausgegebenen Monatszeitschrift „Stecak”, Mario Vukic, dessen Frau bei einer Beschießung seiner Wohnung mit Granaten Ums Leben gekommen ist, dessen zwei Kinder mittlerweile ins Ausland geschickt wurden. „Mario Vukic”, erzählt Topic, „ist mehrmals vor Hunger umgefallen, während des vergangenen Winters war es so kalt in seiner Wohnung, daß er das in einer Flasche gefrorene Trinkwasser - obwohl selbst am Erfrieren - am Körper wärmte, um wenigstens ein paar Tropfen trinken zu können.”

Die Forderung Franjo Topic an die Welt: „Einen vierten Kriegswinter darf es in Sarajewo einfach nicht mehr geben!”

Als katholischer Theologe bin ich Pazifist, aber die derzeitige Militäraktion der bosnischen Armee, um den Belagerungsring um Sarajewo zu sprengen, halte ich in erster Linie für eine humanitäre.” Franjo Topic, der ökumenische Theologie in Sarajewo lehrt und vorvergangene Woche in Wien eine Niederlassung des Sarajewoer kroatischen Kulturvereins Napredak gründete, betont, daß Tiere im Westen besser leben, besser essen, besser geschützt sind als die Menschen in der seit mehr als drei Jahren belagerten Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas. „Schauen Sie sich nur die jüngsten serbischen Terroraktionen an: Die serbischen Belagerer sitzen in einem sicheren Haus bei Kaffee und Schnaps und suchen bequem nach Zielen, um uns abzuschießen. Wir sind wie Tiere in ihren Zielfernrohren, die sie einfach abknallen. Jeden Tag gibt es wieder Tote, zuletzt, wie sie wissen und gesehen haben, auch viele Kinder.”

Der bosnische Serben-führer Badovan Karadzic könne nicht mehr zurück, selbst wenn - wie der serbische Intellektuelle und Schriftsteller Ivan Ivanji jüngst in der FURCHE feststellte (Nummer 24, Seite 9) -Serbiens Präsident Slobodan Milosevic den Frieden anstrebe. „Wer schon so viele getötet hat”, so Franjo Topic, „der schreckt vor nichts mehr zurück. Und übrigens: Bei den jüngsten ,Zwangs'-Bekrutierungen in Serbien und in der Krajina zur Unterstützungen der bosnischen Serben muß ja Milosevic seine Finger im Spiel haben, ohne ihn würde das gar nicht gehen.”

Die bosnische Armee habe überhaupt keine Alternative mehr, als zu versuchen, den Belagerungsring zu sprengen, auch wenn man wisse, daß das Verhältnis von Verteidigern und Angreifern 1:4 betragen muß, um Erfolgsaussichten zu haben, erklärt Topic. Auch Theologen müssen sich in Sarajewo um kriegerische Dinge Gedanken machen. Der Kulturverein Napredak führt engagiert einen Kampf um die Psyche des Sarajewoer Menschen, Werte dürfen nicht zer-, schössen werden. Aber wie lange hält der Mensch eine Situation aus, die davon gekennzeichnet ist, daß ein Kubikmeter Holz 500 DM kostet, während der durchschnittliche Monatsverdienst gegenwärtig eine DM (maximal fünf) beträgt. Holz muß man jetzt schon horten, denn der nächste Kriegswinter kommt bestimmt.

„Wenn es dem Westen nicht gelingt, einen Dialog in Gang zu bringen, könnte Bosnien-Herzegowina Ausgangspunkt für einen neuen Kalten Krieg werden. Buanda war zweifellos viel, viel grausamer. Aber bei uns sind mittlerweile die UNO, die USA, Bußland, die NATO, Frankreich engagiert. Das heißt, ohne eine Lösung für Bosnien gibt es keinen Frieden in Europa. Ich weiß, wie leicht es ist, das Böse zu exportieren. Denken Sie nur daran, wie eine kleine unsichtbare Krebszelle den ganzen Körper zerstören kann.”

In diesem Zusammenhang warnt Topic auch vor der Möglichkeit eines Dritten Weltkrieges und verweist auf das enorme Engagement des Papstes für Bosnien: „Bei uns lebten nur 800.000 Katholiken, die Hälfte von ihnen ist vertrieben oder wurde getötet. Der Papst will unbedingt zu uns kommen, weil er dier verheerende Wirkung dieses Krieges für ganz Europa erkannt hat. Auch die Ernennung von Vinko Puljic zum Kardinal, für eine eigentlich kleine Gemeinschaft, signalisiert die Bedeutung, die der Papst den Geschehnissen in Bosnien beimißt. Ohne jetzt überheblich sein zu wollen, aber ohne das kroatisch-katholische Element in Sarajewo wird Europa nicht weiterleben können.”

In Sarajewo leben gegenwärtig 70 Prozent der Menschen von humanitärer Hilfe. Franjo Topic wird nicht müde, den Österreichern für ihre Aktion „Nachbar in Not” zu danken. Gleichzeitig lädt er ein, nicht zu ermüden, die Hilfe muß weitergehen.

Bei der letzten Austeilung von Lebensmitteln hat jeder ein Kilogramm Mehl, ein halbes Kilogramm Beis und zwei Deziliter Öl für 15 Tage erhalten. Ohne die Auslandshilfe, ohne Verwandte und Freunde im Ausland, die Geld nach Sarajewo schicken -Napredak hat mittlerweile auch eine eigene Bank gegründet -, könnte die Stadt nicht überleben.

Das Hauptanliegen des 1990 wiedererrichteten Vereins, der noch während der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 1902 gegründet, 1949 von den Kommunisten verboten wurde, ist die Förderung von Studenten. Derzeit erhalten 40 Studenten von Napredak Stipendien. Ein Stipendium beträgt 100 DM pro Monat, was zwar nicht genug, aber doch eine große Hilfe ist. Diese wird umso wichtiger, als die Lage gerade für junge Leute in Sarajewo immer hoffnungsloser wird. 2.700 junge Leute aus Bosnien-Herzegowina studieren zur Zeit in Zagreb, die Hälfte von ihnen hat überhaupt keine Unterstützung. Am liebsten wäre es Franjo Topic, wenn möglichst viele Partnerschaften zwischen Familien und Studenten zustandekämen, um die Hilfe direkter und erfolgreicher zu machen.

„Der Krieg darf keine Ausrede für Nichtstun sein”, ist das Motto des Na-predak-Präsidenten Topic. Und Kroaten haben das begriffen. Die alte Grundidee von Napredak hat sofort wieder gegriffen, als man an die Neugründung schritt. In Wien erreicht jeder, der Napredak unterstützen will, den Verein in der Canisiusgasse 16, im 9. Bezirk unter den Telefonnummern.: 545-99-64 oder 587-85-67).

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